2.4.2020, 11 Uhr

Laudatio auf Younghi Pagh-Paan, Preisträgerin Großer Kunstpreis Berlin 2020

Dem Turnus der sechs Akademie-Sektionen folgend wurde der Große Kunstpreis Berlin 2020 in der Sparte Musik an die südkoreanische Komponistin Younghi Pagh-Paan verliehen. Ausgezeichnet wird ihr Lebenswerk.

Laudatio von Silke Leopold

„Woher nehme ich – eine koreanische Frau – den Antrieb zu schöpferischer Tätigkeit?“ Diese Frage stellt Younghi Pagh-Paan 1980 im Werkkommentar zu ihrem Orchesterstück Sori, das 1980 bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt wurde und ihren internationalen Durchbruch markierte. Sie könnte uns zunächst einmal verwundern: Warum sollte eine koreanische Frau nicht schöpferisch tätig sein? Doch in Wirklichkeit war diese Frage auch 1980 immer noch berechtigt, und sie ist es wohl bis heute. Die konfuzianische Männergesellschaft – so Younghi Pagh-Paan weiter –, von der die koreanische Gesellschaft jahrhundertelang geprägt wurde, habe den Frauen wenig Raum zu eigener Entfaltung gelassen. In der koreanischen Volkskultur aber hätten Frauen großen Einfluss gehabt, als Schamaninnen, als Schriftstellerinnen, Musikerinnen, Tänzerinnen die Kultur ihres Landes entscheidend mitgestaltet. Es seien diese Frauen, die ihr als Vorbild dienten.

In dieser knappen Einleitung steckt schon vieles von dem, was Frau Pagh-Paans künstlerische Persönlichkeit kennzeichnet, was ihren Lebensweg so außergewöhnlich und ihr kompositorisches Werk so einzigartig macht. Denn an der Wiege war ihr die Karriere, die sie erst aus der koreanischen Provinz in die Hauptstadt Seoul, dann nach Deutschland und Italien und schließlich in die ganze Welt führte, ganz gewiss nicht gesungen worden. Es ist ein Werdegang, der als Modell für jene Schmetterlingseffekt genannte mathematische Theorie herhalten könnte, der zufolge kleinste, bisweilen eher zufällige Ereignisse weitere bedeutsame Entwicklungen in Gang setzen, minimale Wendungen in die eine oder die andere Richtung maximale Wirkung entfalten können. Bezogen auf den Lebensweg eines Menschen heißt das auch: Jede Abzweigung, für die wir uns entscheiden, eröffnet ungezählte weitere Möglichkeiten unserer Entwicklung und führt uns in Regionen, von denen wir zum Zeitpunkt der Entscheidung für die eine oder die andere Route noch nicht einmal etwas ahnen können.

In Zeiten wie den heutigen, da wir uns wie selbstverständlich als Weltbürger fühlen, die sich mal in diesem, mal in jenem Kontinent niederlassen, da wir uns überall zurechtzufinden meinen, da jede Frau für sich in Anspruch nehmen kann, nach denselben Sternen greifen zu dürfen wie ein Mann, ist vielleicht schon in Vergessenheit geraten, dass diese Freizügigkeit noch nicht einmal ein Menschenalter alt ist. Als Younghi am 30. November 1945 (nach dem Sonnenkalender) als achtes von neun Kindern ihrer Eltern in Cheongju, einer mittelgroßen Stadt mitten in Südkorea geboren wurde, bestand sie jedenfalls noch nicht. Von Mädchen, das war in Korea nicht anders als in Deutschland, wurde ein ganz anderer Lebensweg erwartet als der, den sie nehmen sollte. Und die Lebensumstände waren bei ihrer Geburt auch alles andere als angenehm. Das Ende des 2. Weltkrieges bedeutete für Korea zwar die Befreiung von japanischer Kolonialherrschaft, aber in der Folge auch Aufstände, Massaker, Teilung, Krieg, Militärdiktatur, Repression, Unfreiheit. Und dazwischen Menschen, die sich mit unterschiedlichem Erfolg bemühten, ihr Leben zu leben, trotz all dem Leid, das der Krieg und seine Folgen über sie brachte – der Bruder, der im Koreakrieg sein Leben lassen musste, der Vater, der die Zumutungen des Daseins nur schwer ertrug, die Mutter, die vor Arbeit nicht wusste, wo ihr der Kopf stand und mit ihrer Hingabe an die Familie dafür gesorgt hat, dass ihre Kinder studieren konnten. Der Vater aber schenkte seiner Tochter die Liebe zur Musik, spielte ihr auf der Bambusflöte vor und hörte ihr zu, wenn sie sang. Und sie versuchte, dem Vater mit ihrem Singen ein wenig Trost zu geben, wenn dieser sich in seiner Trauer verlor. Schon früh machte die kleine Younghi die Erfahrung, dass Musik Zufluchtsort und Heilmittel, Identität und existenzielle Erfahrung sein konnte. Daran änderte auch die klassische westliche Musikausbildung dann nur noch wenig, die ihr in der Schule zuteilwurde – Noten lesen und schreiben, Klavier spielen, Tonsätze erfinden. Dass es ihr gelang, in Seoul an der Universität Musik zu studieren, war die erste dieser unwahrscheinlichen Wendungen, und nicht minder das DAAD-Stipendium, mit dem sie 1974 nach Deutschland kam. In eine Welt, die so fremd war, dass die Fragen nach Identität, nach dem Fremden und dem Eigenen, neu beantwortet werden mussten. In Korea, an der Seoul National University, war musikalische Mimikry gefordert, das Studium westlicher Musik, Kontrapunkt und Harmonielehre, Beethoven, Brahms, Schönberg. In Deutschland waren es dann zunächst die koreanischen Traditionen, die ihr musikalisches Denken und ihre Kompositionen prägten, und die ihr auch ihre ersten, immer größer werdenden Erfolge bescherten. In Klaus Huber, Professor für Komposition an der Musikhochschule in Freiburg, fand sie den Lehrer, ihren Lebensgefährten und späteren Ehemann und ihren künstlerischen Partner, der ihre Fähigkeiten erkannte und förderte, der ihr Raum gab, ihre eigenen musikalischen Ideen zu entfalten. Sie verdankt ihm viel und sie hat ihm, bevor er 2017 hochbetagt in der umbrischen Wahlheimat starb, vieles zurückgeben können.

Ein Blick auf den Werkkatalog Younghi Pagh-Paans macht deutlich, wie sehr die Spannung zwischen dem Eigenen und dem Fremden ihr künstlerisches Denken geprägt hat. Nahezu alle Werke der ersten 25 Jahre tragen koreanische Titel oder beziehen sich auf koreanische bzw. chinesische Texte. Und alle sind bemüht, zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu vermitteln, einen Ausgleich zu finden – das vielleicht wichtigste Thema ihres gesamten Lebenswerks. Der Titel ihres ersten in Deutschland entstandenen Stücks, das Frau Pagh-Paan in ihren Werkkatalog aufnahm, spricht, was diese Spannung angeht, Bände. Dreisam-Nore, 1975 entstanden, verbindet Nore, das koreanische Wort für Lied, mit der Dreisam, dem Flüsschen, das durch Freiburg fließt. Und was dabei herauskommt, ist ein Stück für Flöte solo, das die klanglichen und spieltechnischen Möglichkeiten des Instruments bis an die Grenzen auslotet – eine buchstäblich fließende, wie unendliche Melodie, eine gänzlich eigene Musiksprache, weder koreanisch noch deutsch noch sonst irgendetwas, das nach Programmmusik schmecken könnte: Zwar lenkt der Titel die Wahrnehmung des Zuhörers auf das Wasser, aber die Komposition verweigert sich einer plakativen Assoziation von einem plätschernden Bach; statt dessen verwandelt sie eine Idee von Wasser als einem Element in ständiger Bewegung und stetiger Ruhe in Klang. Wasser spielt, wie überhaupt die Natur, im Werk Younghi Pagh-Paans eine zentrale Rolle: Das einzige, 1971 entstandene Werk aus ihrer koreanischen Zeit, das sie in ihren Werkkatalog übernahm, trägt den Titel PA-MUN, was so viel heißt wie Wasserkräuselung, und immer wieder ist in den Titeln ihrer Kompositionen von Brunnen, schwimmenden Inseln, Lotosblumen und Seerosen die Rede, vom Glanz des Lichts, des Sonnenuntergangs, von blühenden Lilien, vom Horizont. Wir sollten uns von diesen duftig-poetischen Titeln freilich nicht täuschen lassen, denn immer geht es um weit mehr als um Naturbeschreibung. Die Natur ist Metapher für den Urgrund des Lebens, für das Wesen des Menschseins, für das Werden und Vergehen der Welt. Davon künden zahlreiche Texte aus der fernöstlichen Philosophie, dem Taoismus, dem Zen-Buddhismus, die sie ihren Kompositionen zugrunde legt, sei es als gesungene Texte, oder sei es als ideelle Grundlage einer Instrumentalkomposition.

Die Spannung und die Vermittlung zwischen dem Fremden und dem Eigenen ist sicherlich die wichtigste Säule im Schaffen Younghi Pagh-Paans. Es ist ihr Lebensthema, eines, das sie in zahlreichen Werkkommentaren und Interviews immer wieder benennt. Aber es ist nicht die Einzige. Eine zweite ist die Politik. Flucht, Vertreibung, Heimatlosigkeit, Gewalt und Widerstand sind wiederkehrende Themen in ihren Kompositionen – eminent politische Themen, mit denen sie sich freilich auf ihre ganz besondere Weise auseinandersetzt. Ihre bisher einzige Oper Mondschatten von 2006, in der sie Sophokles' Tragödie Ödipus auf Kolonos mit zen-buddhistischen Haikus und Texten des koreanischen Philosophen Byung-Chul Han verband, handelt davon, und auch Sori ist dafür ein gutes Beispiel. Liest man Frau Pagh-Paans Werkkommentar, so ist dort von einer Komposition die Rede, die auf der musikalischen Ebene einmal mehr Koreanisches mit Westlichem verknüpft, koreanische Bauernmusik, Trauermusik und Volkstheater, koreanische Rhythmen mit Techniken westlicher Komposition in ein Orchesterwerk verwandelt. Dass in diese Welt ein aktuelles politisches Ereignis einbricht, das sich in brutalen Paukenschlägen, Anklängen an Militärmusik und einer sich ausbreitenden tödlichen Stille artikuliert, hat die Komponistin in diesem Kommentar ungesagt gelassen, später aber thematisiert. Denn dieser musikalische Moment nimmt Bezug auf den furchtbaren Gwangju-Aufstand im Mai 1980, bei dem die Militärdiktatur ein Massaker unter demonstrierenden Studenten, Bauern und Arbeitern angerichtet hatte. Er ist alles andere als deskriptive Musik – vielmehr eine musikalische Parteinahme für die Opfer.

Und dennoch ist Younghi Pagh-Paans Musik niemals absolute Musik, nur „tönend bewegte Form“, wie Eduard Hanslick es 1854 nannte. Sie ist immer von anderen, außermusikalischen Faktoren inspiriert – von Lyrik aus Ost und West, von philosophischen und mystischen Texten, von Tagebucheinträgen und Aufzeichnungen, von der Natur, der Politik, der Religion. Letztere ist, mit offenbar wachsender Bedeutung für ihr Schaffen, die dritte Säule, auf der ihr Werk ruht. Und mit ihren Erfahrungen aus zwei Welten, aus verschiedenen religiösen Kulturen wie dem Zen-Buddhismus, der antiken Götterwelt und dem Christentum gelingt es ihr immer wieder, die Gemeinsamkeiten zwischen scheinbar weit entfernten Denkweisen zu entdecken und für ihre sehr eigene musikalische Erfindung fruchtbar zu machen. In ihrer kompositorischen Auseinandersetzung mit der Religion, den Bezügen zwischen fernöstlicher Philosophie und dem Christentum artikuliert sich auf einer anderen Ebene noch einmal die Spannung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen Asien und Europa. Und fast bekommt man den Eindruck, als würden christliche Themen in ihrem Werk der jüngeren Jahre immer wichtiger. Davon zeugt auch das große Projekt, die sieben letzten Worte Jesu nach und nach auf eine sehr eigene Weise in eigene Kompositionen zu transferieren. Zu dieser Werkgruppe gehören so unterschiedliche Kompositionen wie das 2008 entstandene I thirst / Mich dürstet für Klavier solo oder das Streichquartett (ihr erstes) Horizont auf hoher See von 2017, in dem das Christuswort „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ im Zentrum steht, verbunden mit Aufzeichnungen der französischen Philosophin Simone Weil und einer Antifon Hildegard von Bingens. Auch hier mischen sich religiöse Gedanken mit politischen Obertönen – I thirst / Mich dürstet nimmt Bezug auf ein weiteres Massaker in der südkoreanischen Geschichte – den Jeju-Aufstand vom 3. April 1948, und der Titel des Streichquartetts auf Simone Weils Zeit im Exil.

Hildegard von Bingen, Simone Weil, Teresa von Ávila, Edith Stein, Rose Ausländer – es ist wohl kein Zufall, dass die Autoren, die in Younghi Pagh-Paan etwas auslösen, was dann zu Klängen geformt wird, zu einem großen Teil weiblich sind. Auch in Europa ließen sich Vorbilder für schöpferische Aktivitäten und Seelenverwandte finden, was das Gefühl von Heimatlosigkeit, Fremdheitserfahrung, Flucht, Verfolgung oder Vertreibung angeht. Und damit bin ich bei der vierten Säule, auf der Younghi Pagh-Paans Arbeit ruht. Die Frage, welche Rolle Frauen in der Gesellschaft spielen können, spielen sollten, hat ihren Lebensweg begleitet wie die Spannung zwischen den Kulturen. Dass eine Frau bei den Musiktagen mit einem großen Orchesterwerk in Erscheinung und gleich ins Rampenlicht der internationalen Öffentlichkeit trat, war in Donaueschingen bis 1980 nicht vorgesehen. Auch dies muss heute vielleicht noch einmal in Erinnerung gerufen werden: Frauen hatten selbst vor wenigen Jahrzehnten noch in der Musikwelt bestenfalls als Sängerinnen oder Solistinnen auf einem Instrument eine Stimme. Eine Komponistin bei den Donaueschinger Musiktagen? Das hatte es zum ersten Mal überhaupt 1968 gegeben – man beachte das Jahr – , und zwar in Gestalt von Cathy Berberian, die ihre zwei Jahre zuvor entstandene Stripsody vortragen durfte, und Tona Scherchen, deren Kammermusikstück Wai von Cathy Berberian im gleichen Konzert uraufgeführt wurde. Und Younghi Pagh-Paan war 1994 die erste Frau in der Geschichte des gesamten deutschen Sprachraums, die auf eine Professur für Komposition berufen wurde – in Bremen, wo sie bis heute heimisch ist. Sie hat dort das Atelier Neue Musik begründet und bis zu ihrer Pensionierung geleitet. Und sie hat einen großen, ungewöhnlich internationalen Schülerkreis mit Studierenden aus allen Ländern und Kulturen des Erdkreises aufgebaut, aus dem viele heute sehr bekannte und erfolgreiche Komponisten hervorgegangen sind. Dass ihre Schüler zu ihrer Lehrerin auch über das Studium hinaus engen Kontakt halten, macht deutlich, wie erfolgreich ihr Unterricht war. Sie hat jedem von ihnen mitgegeben, dass er oder sie ein Individuum, ein Künstler, etwas Besonderes sei, dass daraus aber die Verpflichtung zur Hingabe, zur Unbedingtheit, zur Entgrenzung und Entäußerung folgt.

Es mag wohl stimmen: Dem Mädchen, das da Ende 1945 im koreanischen Hinterland geboren wurde, hätte wohl niemand vorhergesagt, dass es heute hier den Großen Kunstpreis Berlin 2020 in Empfang nehmen würde. Younghi Pagh-Paans Lebensweg ist reich an unvorhergesehenen Wendungen, an Brüchen, an Marksteinen. In der Rückschau allerdings fügen sich alle diese verschlungenen Pfade zu einem geraden Weg – dem Weg einer Künstlerin, die ihre eigene Existenz, ihre vielfältigen Erfahrungen, ihre seelischen Befindlichkeiten in ihre Kunst einzubringen und in Klänge zu verwandeln vermag – Klänge von durchdachter Struktur und von großer Schönheit. Traurigkeit in Kraft verwandeln, der Bedrückung eine Stimme zu geben, die seelische Last zur Triebfeder schöpferischen Tuns zu machen – das ist nicht nur eine düstere Angelegenheit. Musik hat immer auch eine helle, eine lichte, eine tröstliche Seite. Korea und Deutschland – das sind die beiden Länder, die Younghi Pagh-Paans Biografie, vor allem aber auch ihren künstlerischen Weg beschreiben, und die in ihrer Kunst wie wohl auch in ihrem Leben beständig miteinander ringen, voneinander profitieren, sich gegenseitig bereichern, vielleicht bisweilen auch gegeneinander kämpfen, aber immer Neues hervorbringen.

„Das Klingende“ – das schreibt Younghi Pagh-Paan im September 2007 im Werkkommentar zu ihrem Orchesterstück Das Universum atmet, es wächst und schwindet –, „Das Klingende ist ein Lobpreis allen Lebens.“ Schöner kann man es wohl nicht sagen. Liebe Younghi, ich gratuliere Dir von Herzen zu diesem Preis.