Marina Zwetajewa: Über Deutschland

Film und Gespräch

Schon der Titel „Über Deutschland“ impliziert die Absicht der Schriftstellerin Marina Zwetajewas nachzusinnen: Es geht um den Über-Blick, die Infragestellung von Nationen im herkömmlichen Sinne. Marina Zwetajewas Biografie und Werk sind von einer ungeheuer dramatischen Wucht. Bernhard Sallmanns Film und eine Gesprächsrunde wird Aspekte der Wirkung, Rezeption und Zwetajewas Deutschland-Bild, stellvertretend für ihren ebenso musisch wie europäisch geprägten Ansatz, aufblättern.

Poesie als Gegenwelt, als Gegenwehr – die Dichterin Marina Zwetajewa erschuf sich von Kindheit an durch ihre Text-Myriaden eine Welt, in die sie flüchten, sich schützen und aus der heraus sie die scharfe Klinge des Wortes führen konnte. In den nur 49 Jahren ihres Lebens durchlitt sie Exilstationen in Berlin, Prag und Paris, erfuhr die Nicht-Zugehörigkeit zu den wechselnden „Ismen“ der Avantgarden und gab sich verzehrend Liebesbeziehungen mit Männern wie Frauen hin. Der Verlust wurde ihr ständiger Begleiter. Früh verlor sie die Mutter, dann die russische Heimat, Freunde und Familie in den Kriegen und durch Stalins Furor. 1892 in Moskau geboren, aufgewachsen in einem musisch orientierten Elternhaus, sind ihr Musik, Malerei und Literatur früh vertraut. Ihr dichterisches Werk umfasst Lyrik, Erzählungen und die Hinterlassenschaft intensiver Brieffreundschaften wie mit Pasternak und Rilke. Es liegt etwas Schwärmerisches in ihrem Werk und gleichzeitig ein Aufruhr, der ihren Texten Kraft, Schärfe und einen eigensinnigen Rhythmus verleiht. 1939 kehrte Marina Zwetajewa nach Moskau zurück und wurde 1941 nach Jelabuga (Tatarische SSR) evakuiert, wo sie sich verarmt und isoliert das Leben nahm. Ihr ganzes Schaffen widmete sie dem Wort, um gegen den Hass anzuschreiben. Zwetajewas Werk ist ein großes Plädoyer für die Kunst, die sich nicht an Grenzen hält.

Über Deutschland – Ein Filmessay von Bernhard Sallmann

Der Regisseur Bernhard Sallmann führt mit dem Film „Über Deutschland“ in die Zeit von Zwetajewas Jugend. 1910, als 18-jährige, verbringt sie begeistert und inspiriert ein paar Wochen in Dresden-Loschwitz. Neun Jahre später, während in Russland Bürgerkrieg herrscht, bringt sie ihre Reflexionen über Deutschland und die europäische (Un)Ordnung vor dem ersten Weltkrieg mit einer erstaunlichen Klarsicht und Originalität im Denken zu Papier:

"Was lieben Sie an Deutschland?"
"Goethe und den Rhein."
"Nun, und das gegenwärtige Deutschland?"
"Leidenschaftlich."
"Wie, ohne Rücksicht a u f...
"Nicht nur ohne Rücksicht, - o h n e e s z u s e h e n!"
"Sind Sie blind?"
"Sehend!"
"Sind Sie taub?"
"Das absolute Gehör."
"Was sehen Sie denn?"
"Goethes Stirn über den Jahrtausenden."
"Was hören Sie denn?"
"Das Rauschen des Rheins über die Jahrtausende."
"Aber da reden Sie von der Vergangenheit!"
"Von der Zukunft!"

Auf eigenen Wegen, 1919, aus dem Russischen von Marie-Luise Bott, Suhrkamp-Verlag.

Dieser Text ist Grundlage des Films. Gesprochen von Judica Albrecht, entfaltet er in einer strengen Komposition seine Wirkung und führt direkt in die Gegenwart.

Zu bergen gilt es die politischen Amplituden in Zwetajewas Werk, die neben der emotional aufgeladenen Liebeslyrik ins Abseits zu geraten drohen. Eingeladen sind Marie-Luise Bott, Germanistin und Slawistin, die Zwetajewas Tagebuchprosa im Suhrkamp-Verlag herausbrachte, Juliana Kaminskaja, Dozentin am Lehrstuhl für Geschichte der Weltliteratur an der Staatlichen Universität St. Petersburg, sowie Richard Pietraß, Herausgeber (Lyrikreihe Poesiealbum) und Übersetzer. Tomas Bächli, Pianist, der bereits für den Film die Musik einspielte, wird mit Stücken von Schumann und Bach den künstlerischen Kosmos Zwetajewas ergänzen. Judica Albrecht, Sprecherin des Films, wird Gedichte rezitieren an dem von der Regisseurin Helke Misselwitz kuratierten Abend.

Marina Zwetajewa, die an Krieg und Terror zerbrach und ihr ganzes Schaffen dem Wort widmete, um gegen den Hass anzuschreiben, spricht aus dem letzten Jahrhundert heraus zu uns. Wir solidarisieren uns mit all jenen, die gegen Krieg, Hass und Terror aufstehen.

 

Programm:

Begrüßung Helke Misselwitz
Lesung Judica Albrecht
Musik Tomas Bächli
Gespräch mit Marie-Louise Bott, Richard Pietraß, Juliana Kaminskaja (RU)
Moderation: Thomas Irmer (Redakteur, Theater der Zeit)

Film Über Deutschland, Regie: Bernhard Sallmann, Bild: Reiner J. Nagel, Ton: Klaus Barm, Montage: Christoph Krüger, Musik: Tomas Bächli, mit Judica Albrecht, D 2021, 80 Min., DF

Produktion: Reiner J. Nagel (www.ostwärts-film.de)



Filmgespräch mit Bernhard Sallmann moderiert von Sebastian Markt (Filmkritiker)

Sonntag, 20.3.2022

19 Uhr

Hanseatenweg

Film Über Deutschland, D 2021, 80 Min.
Regie: Bernhard Sallmann

Gespräch und Lesung mit Judica Albrecht, Marie-Luise Bott, Juliana Kaminskaja, Helke Misselwitz, Richard Pietraß und Bernhard Sallmann

Musik: Tomas Bächli (Piano)

In deutscher Sprache

€ 6/4

Kartenreservierung

Tel.: (030) 200 57-1000
E-Mail: ticket@adk.de