Munitionskiste mit Lebensdokumenten von Ella Jonas-Stockhausen

Munitionskiste von Ella Jonas-Stockhausen, ohne Jahr

Nicht jede Fluchtbewegung ist mit einem Fluchtweg verbunden. Das wird am Schicksal der Pianistin Ella Jonas-Stockhausen deutlich. Wegen ihrer jüdischen Herkunft gerät sie nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die typischen Mechanismen von zunehmender Drangsalierung und Ausgrenzung. Hatte sie einst als Solistin Konzerte mit dem Berliner Philharmonischen Orchester gegeben, so erhält sie 1935 aufgrund der Nürnberger Rassengesetze Auftrittsverbot durch die Reichsmusikkammer. Auch ihr nicht-jüdischer Mann, der aus einer Krefelder Industriellenfamilie stammende Chemiker Ferdinand Stockhausen (1875–1950), bleibt nicht unverschont: Bereits 1934 verwehren ihm die Nazis wegen der „nicht-arischen Abstammung“ seiner Frau eine Professur. Wie Ella Jonas-Stockhausen sich der nationalsozialistischen Verfolgung entziehen kann, ist bemerkenswert. Der vollständige Rückzug in die Verborgenheit des Privaten bewahrt sie vor dem Schlimmsten. In ihrer Wohnung, Duisburger Straße 4 in Berlin-Wilmersdorf, führt sie über Jahre hinweg ein unsichtbares und von der Außenwelt abgeschlossenes Leben. Die Wohnung, die sie gemeinsam mit ihrem Mann bereits 1918 bezogen hat, wird Fluchtburg und Gefängnis zugleich. Dabei muss das Überleben der Pianistin wohl erkauft worden sein durch die Preisgabe der umfangreichen Kunstsammlung, die das Ehepaar Stockhausen vor 1933 aufgebaut und – so das Zeugnis der Nichte Charlotte Zander – gezwungenermaßen testamentarisch Hermann Göring vermacht hat. 1943 wird die Sammlung nach Schlesien gebracht, um sie vor Bombardierungen zu schützen. Seither ist sie verschollen.

Eine Munitionskiste, die angeblich auf einer Papiermülldeponie gefunden und der Akademie der Künste 2012 übergeben wird, bildet gleichsam die Flaschenpost, die vieles von dem überliefert, was heute – bruchstückhaft genug – über Ella Jonas-Stockhausen bekannt ist. Hat die Pianistin sie noch selbst gepackt? Oder wollten andere eine Botschaft an die Nachwelt senden?



Ella Jonas-Stockhausen, geb. 1883 in Dortmund, gest. 1967 in Berlin/West. Pianistin, Musikpädagogin. 1905–1935 ausgedehnte Konzerttätigkeit als Solopianistin, daneben Tätigkeit als Musikpädagogin unter anderem am Klindworth-Scharwenka-Konservatorium in Berlin, 1935 Berufsverbot, überlebte als Jüdin zurückgezogen in ihrer Berliner Wohnung, etwa 1947 Wiederaufnahme der Konzerttätigkeit unter anderem beim RIAS und beim Nordwestdeutschen Rundfunk.

Gezeigt in der Ausstellung "Uncertain States. Künstlerisches Handeln in Ausnahmezuständen", 15.10.2016 – 15.1.2017