Ein Nobelpreis fürs Archiv

Nobelpreis für Literatur, 2002, für Imre Kertész, Goldmedaille, gestaltet von Erik Lindberg

Ein außergewöhnliches Ereignis war es für die Akademie der Künste, als Magda Kertész am 30. Mai des vergangenen Jahres dem Archiv die Goldmedaille und die Urkunde des Nobelpreises für Literatur überreichte, mit dem der ungarische Schriftsteller Imre Kertész im Jahre 2002 geehrt worden war. Bis dahin lagerten die Preisinsignien in einem Banktresor am Berliner Kurfürstendamm. Seinen Vorlass hatte Imre Kertész ab 2001 sukzessive im Archiv der Akademie deponiert, die diesen persönlichen Bestand an werkbezogenen und biografischen Unterlagen umfassend im Jahr 2012 – mit Unterstützung des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, der Kulturstiftung der Länder sowie der Friede-Springer-Stiftung – erwarb und öffentlich vorstellte. Bewusst entschied sich Kertész, sein literarisches Archiv in Berlin unterzubringen. In dieser Stadt hatte er seit 2002 gelebt und erklärtermaßen seine glücklichste Zeit verbracht. Ab 2003 Mitglied der Akademie, setzte er Vertrauen in diese traditionsreiche Institution, und es entwickelte sich eine langjährige, wunderbare Zusammenarbeit.

Angesichts dieser Umstände überraschte eine Pressemitteilung der ungarischen Nachrichtenagentur Magyar Távirati Iroda vom 21. Dezember 2016. Mitgeteilt wurde die Gründung des „Imre-Kertész-Zentrums“ in Budapest, das die Pflege und Verwaltung des Nachlasses des Schriftstellers zum Ziel habe. Vor allem widme es sich der Aufarbeitung und Publizierung seines Werkes, darunter der in der Akademie der Künste aufbewahrten Handschriften. In der literarischen Öffentlichkeit sorgte die Nachricht für Irritationen. Die Stiftung für die Erforschung der Geschichte und Gesellschaft Mittel- und Osteuropas, die das Kertész-Zentrum trägt, gilt als rechts-konservativ. Wie will sie das Werk des Nobelpreisträgers und Holocaust-Überlebenden pflegen, den regierungsnahe ungarische Medien oftmals verunglimpft haben? Worin besteht der Budapester Nachlass von Imre Kertész, und was genau hat Magda Kertész – die im September 2016 starb – mit der Stiftung vereinbart? Diese Fragen sind bislang offen.

Immerhin soll in der Budapester Wohnung Kertész’, in der er bis 1995 lebte und den Roman eines Schicksallosen verfasste, ein Museum errichtet werden. Mit diesem Roman errang der Schriftsteller Weltruhm. Jahrelang hatte er an dem Werk gearbeitet. Als es 1975 auf Ungarisch erschien, wurde es jedoch kaum beachtet. Erst in der deutschen Übersetzung von Christina Viragh im Jahr 1996 erlangte es den verdienten, überwältigenden Erfolg. Die Ich-Erzählung eines 15-jährigen Budapester Jungen, der arglos und staunend in die faschistische Vernichtungsmaschinerie gerät und sich in deren Logik hineindenkt, brachte einen völlig neuen Ton in die Holocaust-Literatur. Kertész’ Ästhetik des nüchternen, fast emotionslosen Berichts, ohne Wertung, ohne Moral, verstört auch heute noch zutiefst. Aus seiner Erzähl-perspektive durchleuchtete der Autor die Normalität und die Abgründe der menschlichen Natur und schuf einen Entwicklungs- und Bildungsroman der anderen Art, den niemand je vergisst, der ihn gelesen hat.

Sein Bedürfnis, das Unerzählbare zu erzählen, entsprang eigenem Erleben. Auch seine anderen Werke, die Romane, Tagebücher und Essays, sind vom Zivilisationsbruch durch den Holocaust grundiert. So erhielt Kertész den Nobelpreis denn auch für ein literarisches Schaffen, „das die zerbrechliche Erfahrung des Einzelnen gegenüber der barbarischen Willkür der Geschichte behauptet“, wie es auf der von dem Schriftsteller Per Wästberg und dem Essayisten Horace Engdal unterzeichneten Preisurkunde heißt (im Original: „,för ett författarskap som hävdar den enskildes bräckliga erfarenhet mot historiens barbariska godtycke'"). Die späte Ehrung nannte Kertész selbst eine „Glückskatastrophe“, stand er doch ab sofort im Rampenlicht, hatte gesellschaftliche Verpflichtungen, Einladungen in alle Welt, fühlte sich aber zusehends zermürbt von den „erwürgenden Anforderungen des Ruhms“ und sah sich auch Anfeindungen ausgesetzt. Mit Imre Kertész starb am 31. März 2016 ein Zeuge der Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, ein Menschenfreund, einer, der das Leben geliebt hatte. Sein literarischer Nachlass, wie er in der Akademie der Künste bewahrt wird, enthält die Manuskripte seiner Werke, neben dem Roman eines Schicksallosen u. a. Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, Galeerentagebuch, Ich – ein anderer und Fiasko, Essays und Interviews, Werkentwürfe, darüber hinaus die Tagebücher, Korrespondenz, Lebensdokumente, Fotos, Preise, Rezensionen und Sammlungen. Diese kulturgeschichtlich einzigartigen Materialien zu Leben und Werk eines Jahrhundertautors sind zum Großteil bereits archiviert, online recherchierbar und stehen der interessierten Öffentlichkeit im Lesesaal des Akademie-Archivs zur Einsichtnahme zur Verfügung. Die Akademie der Künste, Berlin, fühlt sich geehrt, diesen bedeutenden Nachlass, dem Wunsche des Autors gemäß, auf Dauer betreuen zu dürfen. Dem Motto des Literaturnobelpreises – Inventas vitam iuvat excoluisse per artes – entsprechend, „das Leben durch die Kunst [zu] verbessern“, hat Imre Kertész das Seine geleistet.

Autorin: Sabine Wolf, Stellvertretende Direktorin des Archivs der Akademie der Künste, Berlin.

Erschienen in: Journal der Künste 02, April 2017, S. 42-43