28.9.2017, 10 Uhr

Hermann Scherchens Zeitschrift Gravesaner Blätter erstmals online

Gravesaner Blätter, Titelblatt von Heft 9, III. Jg., Juli 1957

Die Akademie der Künste hat die von dem Dirigenten Hermann Scherchen gegründete und herausgegebene Musikzeitschrift Gravesaner Blätter online gestellt. Die Zeitschrift, die nur in wenigen Bibliotheken vollständig vorliegt, stellt eine wichtige Quelle zur internationalen Diskussion der Musik in den 1950er und 1960er Jahren dar und ist nunmehr über die Archivdatenbank der Akademie der Künste allgemein zugänglich. Die Gravesaner Blätter erschienen von 1955 bis zu Scherchens Tod im Jahr 1966 in insgesamt 29 Nummern und sind als ein Pendant zu dem in Wien bei der Universal Edition ebenfalls ab 1955 erschienenen Periodikum Die Reihe zu sehen, von dem jedoch nur 8 Ausgaben herauskamen und das 1962 eingestellt wurde.

„Der Lerneifer, durch den sich Scherchen als junger Mensch erhob, blieb der gleiche später in allen Lebenslagen“, formulierte Elias Canetti in seiner Autobiographie über den Dirigenten, und tatsächlich erscheint die Energie, mit der Scherchen 1954 in seinem Haus in Gravesano im Tessin sein eigenes Experimentalstudio zur Erforschung der Technik der Schallreproduktion einrichtete, nicht anders als diejenige, die den jungen Dirigenten bereits 1920 und dann nochmals, in der Emigration in den 1930er Jahren dazu führte, eigene Zeitschriften zu gründen, zu leiten und zum Teil auch zu verlegen: zunächst, ab 1920, Melos, dann in Brüssel die in vier Sprachen gehaltene Musica Viva (1936-1937). Die dritte von Scherchen herausgegebene Zeitschrift, die ebenfalls mehrsprachigen Gravesaner Blätter gehen inhaltlich weit über die Beschreibung akustischer Probleme und ihrer technischen Lösungen hinaus und umfassen von vornherein auch ästhetisch-kompositorische Fragen der Zeit.

Das erste Heft eröffnet mit einem Beitrag des Komponisten und Architekten Iannis Xenakis über die Krise der seriellen Musik. Xenakis blieb der Zeitschrift bis zum Schluss als wichtigster Mitarbeiter verbunden und stellte darin auch seine Ideen zur stochastischen Musik vor. Ab Juli 1957 erscheinen die Gravesaner Blätter mit dem von Le Corbusier  gestalteten Cover (siehe Abbildung), das Heft eröffnet mit dem Beitrag des Architekten über den „Modulor“. In der letzten Nummer sind auf einer Schallplattenbeilage Improvisationen des Jazzsaxophonisten Jimmy Giuffre enthalten. Zeitlebens wollte Scherchen Einfluss nehmen auf alles Neue im internationalen Musikleben, und dazu diente neben der berüchtigten Strenge des Orchestererziehers auch die eigene Forschung und Publizistik. Wir danken dem Künstler Luca Frei für die großzügige Überlassung der Scans der Gravesaner Blätter.

Materialien aus dem Hermann-Scherchen-Archiv, unter anderem eine Ausgabe der Gravesaner Blätter, werden im Rahmen des Festivals KONTAKTE '17 – Biennale für Elektroakustische Musik und Klangkunst gezeigt, das vom 28.9. – 1.10.2017 in der Akademie der Künste am Hanseatenweg stattfindet. Historischer Programmschwerpunkt des Festivals ist Hermann Scherchens Elektroakustisches Experimentalstudio in Gravesano, Schweiz.

Ansprechpartner: Dr. Werner Grünzweig