Panel III: Konstruktion – Terrorbilder: Wenn Bilder zu Waffen werden

John Heartfield, Krieg und Leichen – Die letzte Hoffnung der Reichen, Doppelseite aus der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung, 1932

Einleitung

Charlotte Klonk

„Es lag ein Stück Zeitgeist darin: so zerstückelt war unsere Welt!“ So beschrieb George Grosz im Rückblick den von John Heartfield gestalteten Prospekt der „Kleinen Grosz-Mappe“. Typografisches Chaos, zerschnittene und zusammengeklebte Bilder, die Kombination von Piktogrammen und Fotografien: Diese Mischformen aus sprechendem Bild und malerischer Schrift bestimmen heute die grafische Gestalt unserer medialen Welt, im Internet und auch in der gedruckten Presse (wo sie noch gedruckt wird). Sie sind so alltäglich geworden, dass sie vielleicht gar nicht mehr als monströs erlebt werden.

Im Unterschied zum Verfahren der Zerstückelung und Rekombination ist der Gegenstand der Zerstückelung immer noch mit einem Tabu belegt, das medienethisch womöglich sogar noch rigoroser durchgesetzt wird als zu der Zeit, in der Grosz und Heartfield mit der Darstellung von Kriegsversehrten oder Anspielungen auf Amputationen schockierten. Auf das Verbot der Abbildung zerfetzter Leiber, das Presse und elektronische Bildmedien sich auferlegt haben, reagieren Terroristen, indem sie Bilder von ihren Taten selbst erzeugen und verbreiten. Das dritte Panel des virtuellen Symposiums „Abschied von der Fotomontage? nimmt diese pseudo-dokumentarischen Terrorbilder als moderne, vorwiegend anonym produzierte Gattung in den Blick und stellt die Frage, worin sich ihre Montagetechniken und rhetorischen Strategien von den Kunstmitteln Heartfields unterscheiden.

Dass ein stummes Bild lauter sprechen könne als eine Tonspur, dass die Erinnerung zwangsläufig repetitiv verfahre, gibt Rithy Panh in einem Kommentar zu seinem Film Irradiés zu bedenken, der 2020 mit dem Dokumentarfilmpreis der Berlinale ausgezeichnet wurde. Auch Wiederholungsschleifen in der kritischen Debatte müssen uns laut Panh nicht abschrecken: Wie er schreibt, kommt er in seiner Arbeit immer wieder auf die zwischen Claude Lanzmann und Georges Didi-Huberman strittige Frage zurück, ob Bilder von Völkermordtaten gezeigt werden sollen oder nicht.

Absichten und Streuwirkungen, Hyperrealismus und Surrealismus, Schockeffekt und Abstumpfungsgefahr sind einige Stichworte der Referate. Die Frage, ob sich vernünftigerweise von einem „Eigenleben“ digitaler Bilder sprechen lässt oder dieser Eindruck unter Umständen hauptsächlich dadurch entsteht, dass sogenannte „virale“ Kettenreaktionen in ihrem genauen Verlauf diffus bleiben müssen, verdient vielleicht besondere Beachtung. So liegt wohl auch ein Stück Zeitgeist unserer Welt in den Bildern und Beiträgen zu diesem Symposium.

Charlotte Klonk ist Professorin für Kunst und Neue Medien am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. Publiziert hat sie unter anderem zu Naturforschung und Malerei (Science and the Perception of Nature, 1998), zu Methoden in der Kunstgeschichte (Art History: A Critical Introduction, 2006), zur Geschichte der Ausstellung (Spaces of Experience: Art Gallery Interiors from 1800 to 2000, 2009) und zum Einsatz von Bildern im Terrorkampf (Terror. Wenn Bilder zu Waffen werden, 2017).

Verena Straub (Berlin):

Die digitale Bildmontage von dschihadistischer Propaganda bis Cyberwar

Islamischer Staat / Medienbüro Al-Haqq Mujahideen, All praise is due to Allah, 2017, 6:38 min, Arabisch mit englischen Untertiteln, Film stil

Das Prinzip, Bildmontagen als Mittel der politischen Agitation einzusetzen, ist heute aktueller denn je. Terrormilizen wie der Islamische Staat verbreiten hochgradig nachbearbeitete Bilder zur offensiven Propaganda und Affizierung. Digitale Montagetechniken werden aber nicht nur eingesetzt, um Gewalt zu stiften. Angesichts der gegenwärtigen Expansion satirischer Photoshop-Memes im Netz wird deutlich: Wer sich der Bildpropaganda bedient, kann auch selbst zur Zielscheibe visueller Angriffe werden, die durchaus in Heartfields Sinne operieren.

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Fragen an Verena Straub

Was macht „Wirklichkeitsnähe“ aus? Laut Klaus Speidel verbindet sie Heartfields und Magrittes Objekt-Montagen, laut Ihrem Beitrag verzichtet das von der Medienstelle des Islamischen Staats (IS) 2017 verbreitete Videotestament (gattungswidrig?) auf sie.

Häufig integrieren Videotestamente Aufnahmen, die die real erfolgte Tat belegen sollen (auch wenn oftmals nicht klar ist, was das verwackelte Bildmaterial überhaupt zu beweisen vermag). Der Anspruch auf „Wirklichkeitsnähe“ wäre hier im Sinne der fotografischen Spur und einer Erzeugung von Evidenz zu verstehen. Unterstrichen wird dieser Anspruch mitunter durch eingeblendete Pfeile mit erklärenden Beschriftungen, die als eine Art Beweisführung ins Bild montiert werden. Umso erstaunlicher ist daher das erwähnte IS-Videotestament von 2017, das auf diese Rhetorik der Evidenz verzichtet und stattdessen auf eine Ästhetik der Computersimulation setzt, die sich einer solchen Wirklichkeitsnähe verweigert. Zugleich würde ich aber argumentieren, dass hier (wie auch in anderen Videotestamenten der letzten Jahre) eine andere Art der „Wirklichkeitsnähe“ hergestellt wird: nämlich die Nähe zur affektiv erlebten „Wirklichkeit“ eines Computerspiels, die mit immersiven Mitteln in den Betrachtenden aufgerufen werden soll.

Heartfield veröffentlichte seine Fotomontagen in der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung und erreichte damit ein ganz bestimmtes politisches Milieu. Kann man genauer sagen, in welchem Umfeld Memes erfolgreich sind, wo sie wahrgenommen werden und wo nicht? Kurzum, was heißt „viraler Erfolg“ im Vergleich zur Auflage der AIZ in Deutschland, die bei der Machtergreifung Hitlers ihren Höhepunkt mit 500.000 bei einer Bevölkerung von ca. 65 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern erlebte, doppelt so viel wie die FAZ heute bei einer größeren Bevölkerungszahl?

Auch wenn viele Memes im Kontext subkultureller Internet-Plattformen entstanden sind, ist das Phänomen längst in den kommerziellen Mainstream-Medien wie Facebook oder Twitter angekommen. Die „Viralität“ eines Bildes wird häufig an der Höhe der Klickzahlen, Likes und Shares sowie der Anzahl der Retweets gemessen, die häufig gar nicht mehr überschaubar sind und daher nur schwer mit den Auflagenzahlen der Printmedien zu vergleichen sind. Im Unterschied zu anderen viralen Inhalten ist bei Memes aber vor allem die Anzahl der Remakes entscheidend. Limor Shifman zufolge liegt der „virale Erfolg“ von Memes gerade in ihrem partizipativen Aufruf, Inhalte nicht nur zu teilen, sondern aktiv weiterzuentwickeln.(1) Hierin liegt wohl auch der größte Unterschied zu den Fotomontagen Heartfields: Memes entfalten ihre Wirkmacht nicht als Einzelbilder, sondern als komplexe Netzwerke von Bildern. Die teils ambivalenten Aneignungen innerhalb eines Meme-Komplexes widersetzen sich dabei festen Bedeutungszuschreibungen und können mitunter auch ihre politische Stoßrichtung verändern. Ebenso variabel sind daher auch die Rezeptionskontexte, in denen Memes im Netz wahrgenommen werden.

Der Schock als Strategie: Wie weit kommt man mit Ihrer Beschreibung „surreal“ und dem Begriff „Surrealismus“ von Klaus Speidel?

Klaus Speidel hat in seinem Text sehr schön aufgezeigt, wie das Zusammentreffen zweier Bildelemente eine „Schockwirkung“ erzeugen kann. Ähnliches ließe sich auch für das von mir erwähnte Beispiel der 9/11-Videotestamente sagen. Folgt man Speidels Kategorisierung, so beruhen die Bluescreen-Montagen der sprechenden Selbstmordattentäter vor den brennenden Twin Towers auf der Methode der „Szene“, in der die verschiedenen Bildelemente in eine narrative Beziehung zueinander treten. Das für mich Unwirkliche dieser Szene habe ich versucht mit dem Adjektiv „surreal“ zu fassen. Aber vielleicht liegt das, was mich an dieser Montage verstört, ja auch gerade darin, dass die Szene aus Sicht der al-Qaida-Unterstützerinnen und -Unterstützer auf die angebliche Märtyrerwerdung der Attentäter (und damit auf eine geglaubte Realität) verweist. Wie weit man mit dem Begriff des Surrealen in diesem Fall kommt, wäre also durchaus zu hinterfragen.

Gelegentlich findet man bei Heartfield laut Klaus Speidel Spuren der gestischen Gewalt des Malerischen. Gibt es solche Techniken des Informel auch in der digitalen Bildmontage?

Eine hochspannende Frage, die gar nicht leicht zu beantworten ist. Künstlerinnen und Künstler des Informel haben sich ja vor allem für den malerischen Prozess interessiert und für das Spontane und Unbewusste, das während des Malvorgangs passiert. Analog ließe sich fragen: Was geschieht in dem Moment, in dem ein Bild am Computer digital bearbeitet, geschnitten und montiert wird? Welche Gesten, welche Affekte sind dabei bedeutsam? In diesem Zusammenhang – vor allem wenn es um digitale Bilder der Gewalt geht – fällt mir die Lecture-Performance „The Inhabitants of Images“ (2009) des Künstlers Rabih Mroué ein. Dieser hat vor den Augen des Publikums eine digitale „Enthauptung“ vollzogen, indem er sein eigenes Porträtbild mit Photoshop-Werkzeugen ausschnitt und auf den Körper eines Hisbollah-Märtyrers montierte. Auch hier ging es weniger um das Bild-Endprodukt, sondern darum, die Bildmontage als affektive Performance auszustellen, die neben geplanten Vorgängen auch zufällige, teils brutale, teils komische Gesten umfasst. Vielleicht wäre das ein Ausgangspunkt, um über Techniken des Informel im digitalen Zeitalter nachzudenken.

Was ist Ihre Lieblingsarbeit von John Heartfield und was war eine Entdeckung in der Ausstellung?

Meine Lieblingsarbeiten Heartfields sind diejenigen, in denen er das Bildermachen oder -zensieren selbst reflektiert. Etwa sein dritter Entwurf für den Bucheinband von Heinrich Wandts Erotik und Spionage in der Etappe Gent (1928), in dem er die Zensur seiner ersten beiden Entwürfe auf so bissige wie originelle Art zum Thema macht.

Eine der für mich verblüffendsten Entdeckungen in der Ausstellung ist eine Ausgabe der AIZ aus dem Jahr 1938, in der die Leserinnen und Leser im Rahmen eines Wettbewerbs aufgefordert werden, eigene politische Fotomontagen im Sinne Heartfields herzustellen (samt Bildelementen zum Ausschneiden). Diese Form der Involvierung erinnert stark an heutige Partizipationsstrukturen im Web 2.0. Das demokratische, zur Nachahmung anregende Potenzial der Fotomontage wurde offensichtlich schon von der AIZ erkannt.

(1) Limor Shifman, Meme: Kunst, Kultur und Politik im digitalen Zeitalter. Berlin 2014, S. 70f.

Verena Straub ist Kunst- und Bildhistorikerin und arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ der Freien Universität Berlin. Sie forscht zu digitalen Bildern im Kontext politischer Agitation und hat sich in ihrer Promotion mit Videotestamenten von Selbstmordattentäterinnen und -attentätern beschäftigt. Weitere Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Bildwissenschaft, der Performance sowie Gegenwartskunst.

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Klaus Speidel (Wien):

Wie surreale Zusammentreffen die Gewalt ins Bild bringen: Von Lautréamont über Magritte und Heartfield bis hin zu Cattelan und Ferrari

John Heartfield, Goebbels Rezept gegen die Lebensmittelnot in Deutschland, in: Arbeiter-Illustrierten-Zeitung, 1935

Der Beitrag führt den medienübergreifenden Begriff des „Zusammentreffens“ ein, der Zusammenstellungen von Objekten, Menschen oder Situationen bezeichnet, die verschiedenen Kontexten entstammen oder in unerwarteten Kombinationen auftreten. Mit dieser Technik bringen John Heartfield, René Magritte, Chema Madoz, Rosemarie Trockel oder Maurizio Cattelan und Pierpaolo Ferrari Gewalt ins Bild. John Heartfield – so zeigt sich – wird nicht nur im Bereich der politischen Fotomontage innovativ wirksam, sondern kann auch im Kontext des Surrealismus produktiv rezipiert werden. Gemeinsam mit Künstlerinnen und Künstlern wie René Magritte oder Frida Kahlo schafft er die bildrhetorischen Grundlagen zeitgenössischer Provokation.

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Fragen an Klaus Speidel

Was macht „Wirklichkeitsnähe“ aus? Laut Ihrem Beitrag verbindet sie Heartfields und Magrittes Objekt-Montagen, laut Verena Straub verzichtet das von der Medienstelle des Islamischen Staats (IS) 2017 verbreitete Videotestament (gattungswidrig?) auf sie.

Ich habe zunächst nur „Wahrnehmungsnähe“ verwendet und im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes im Sinne von Klaus Sachs-Hombach rein visuell definiert. In diesem Sinne sind Fotografien (und Malstile, die Bilder produzieren, die fotografischen gleichen) am „wahrnehmungsnächsten“. Der Begriff der Wirklichkeitsnähe ist aber als Gegenbegriff sehr spannend, denn er lässt auch eine Deutung zu, bei der optische Wiedererkennbarkeit zweitrangig ist. In zwei früheren Aufsätzen zu Porträts Oskar Kokoschkas einerseits(1) und zur Frage der Karikatur andererseits(2) habe ich argumentiert, dass gerade eine optische Verzerrung wirklichkeitsnah (oder realistisch) sein kann. Bildgestalterinnen und -gestalter können beispielsweise das Wesen einer Person bildlich vermitteln, indem sie bewusst von der optischen Ähnlichkeit abweichen, eventuell sogar einen „themenspezifischen Stil“ verwenden, wie Oskar Kokoschka in seinen Porträts für Der Sturm 1910. Man kann dann von einer „nichtoptischen Wirklichkeitsnähe“ sprechen. Wollte man die Bildbeispiele Verena Straubs in dieser Richtung deuten, könnte man sagen, dass die Unversehrtheit der Attentäter oder ihr Aufscheinen über dem Ort ihres Angriffs die spirituelle Wahrheit im Sinne der Dschihadisten besser reflektieren als ein optisch realistisches Bild der Verwüstung oder gar des zerfetzten Körpers. Wenn die Selbstdarstellungen dschihadistischer Kämpfer mit digital montierten Entengesichtern im Internet verballhornt wurden, könnte das wiederum einer dschihadismuskritischen Auffassung als wirklichkeitsnah gelten.

Der Schock als Strategie: Wie weit kommt man mit der Beschreibung „surreal“ von Verena Straub und Ihrem Begriff „Surrealismus“?

Surreal erscheinen die Bilder der Attentäter des 11. Septembers vor den brennenden Twin Towers wohl insofern, als hier zwei Zustände zusammentreffen, die inkompatibel sind: die unversehrten Attentäter mit den zerstörten Türmen. Das wird durch die Überlagerung von Filmmaterial aus zwei Zeiten möglich. Im Grunde produziert diese Montage eine polychrone Darstellung: Es werden Szenen aus mehreren Momenten gleichzeitig im selben Bildraum dargestellt. Dieses Dispositiv ist in mittelalterlichen Darstellungen häufig und wird noch in populären Drucken des 16. Jahrhunderts regelmäßig verwendet. Inzwischen ist es aus der Mode gekommen. Liest man nun ein polychrones Bild – das gilt offenbar auch beim Filmbild – realistisch, entsteht der Eindruck des Surrealen (der auch beim Video der 9/11-Attentäter durchaus intendiert sein könnte), und man könnte sich fragen, ob das Zusammentreffen von Elementen unterschiedlicher Zeiten nicht auch ein Mittel des Surrealen ist. Allerdings ist nicht jede polychrone Darstellung surreal in diesem Sinne und eine solche Deutung wäre bei einem polychronen Bild von Lucas Cranach, das Adam und Eva in einer Landschaft beim Sündenfall, der Vertreibung aus dem Paradies etc. zeigt, wohl problematisch.

Gelegentlich findet man bei Heartfield laut Ihrer Analyse Spuren der gestischen Gewalt des Malerischen. Gibt es solche Techniken des Informel auch in der digitalen Bildmontage?

Ich habe kürzlich argumentiert, dass digitale Retusche eine Form der Malerei ist,(3) allerdings zielt diese meist darauf ab, den digitalen Pinselstrich zum Verschwinden zu bringen. Tatsächlich sind aber auch die meisten sichtbaren Pinselspuren, die wir heute in der Werbung sehen – zum Beispiel im Logo von Sony Music oder in verschiedenen Wahlkampagnen, zuletzt bei der FPÖ in Österreich, die ich in meinem Text (in den Fußnoten) erwähne –, meist digital. Medienessenzialisten würden hier mit den Zähnen knirschen, aber wenn es gut gemacht ist, macht es für die Wahrnehmung der Gewalt, die sich spurhaft ins Bild einschreibt, gar keinen Unterschied, ob der Pinselstrich rein digital ist oder etwa wie bei Roger Excoffons Caravelle-Werbung für Air France von 1964 noch mit einem echten Pinsel gemacht wurde.

Was ist Ihre Lieblingsarbeit von John Heartfield und was war eine Überraschung im Beitrag von Verena Straub oder eine Entdeckung in der Ausstellung?

Mir gefällt besonders gut, wenn Heartfield durch Pinselbewegungen spurhaft Gewalt ins Bild bringt, die mit dem fotografischen Bild in Bezug tritt, wie im besprochenen Cover zu La Belgique invaincue. Besonders spannend ist für mich Krieg! Niemals wieder von 1941, wo Heartfield die Fotomontage mit der aufgespießten Friedenstaube von 1932 mit einem malerischen Hintergrund versieht. Nicht zuletzt imponiert mir, dass sich Heartfields Arbeit hier medienessenzialistischen Festschreibungen widersetzt.

Die Diversität dschihadistischer Propaganda, die Verena Straub aufzeigt, hat mich beeindruckt. Ich dachte, es stünden dokumentarische Darstellungen im Vordergrund. Besonders interessant fand ich, wie sie den Bezugspunkt Ego-Shooter für bestimmte dschihadistische Propagandavideos herausgearbeitet hat. Dabei frage ich mich, ob neben der Immersion ein Derealisierungseffekt entstehen könnte: Wenn sie mit der fiktionalen Welt des Computerspiels assoziiert werden, erscheinen die zerstörerischen und menschenverachtenden Handlungen weniger „echt“, was vermutlich die Gewaltbereitschaft erhöht.

 

(1) Klaus Speidel, Realistic distortions, subject specific style, and the relative representational range of drawing and photography. Oskar Kokoschka on Karl Kraus (and vice-versa), Image & Narrativ 13/4 (2012), S. 48–69

(2) Klaus Speidel, Portrait expressionniste et caricature: le rôle réaliste de la déformation, Ridiculosa 14 (2008), S. 201–227

(3) Klaus Speidel, Could it be painting? Definitions, Symptoms (and Digital Retouching),in:Carl Robinson (Hg.), PaintingDigitalPhotography. Cambridge 2018, S. 64–87

Klaus Speidel ist Bild- und Kunsttheoretiker, Kunstkritiker und Kurator. Von 2003 bis 2009 war er Stipendiat der Ecole normale supérieure, 2013 hat er an der Sorbonne in Philosophie promoviert. Von 2015 bis 2018 leitete er ein FWF Lise Meitner Projekt zur Erzählung im Einzelbild an der Universität Wien. Lehraufträge führten ihn an zahlreiche Universitäten und Kunstakademien in Europa. 2015 wurde er mit dem AICA France Preis für Kunstkritik ausgezeichnet. 

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Philipp Müller (Hamburg):

Vom Schreiben über das Zeigen von Terrorbildern

Bei terroristischen Verbrechen sind Gewalt und deren Medialisierung meist eng verknüpft. Nicht nur Nachrichtenredaktionen und soziale Plattformen sind hier zu selbstkritischer Transparenz in der Kommunikation ihrer Publikationspraxen aufgerufen; auch deren Nutzerinnen und Nutzer sind angehalten, ihr Verhalten in Produktion, Rezeption und Distribution zu hinterfragen. Weil regelmäßig Fotos und Videos terroristischer Aufmerksamkeitsverbrechen massen- und sozialmedial verbreitet werden, wird die Frage nach ihren Attraktionsfaktoren umso dringlicher – auch um Bildkritik als wichtige Ergänzung medienethischer und -politischer Diskussionen zu fokussieren. Dies exemplifiziert der Text an einigen Smartphonevideos des Anschlags in Nizza vom 14. Juli 2016.

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Fragen an Philipp Müller

Sowohl Ihr Beitrag als auch der von Annette Vowinckel behandeln Bildgattungen, die auf Wirkung berechnet sind. Wie lässt sich Wirkung messen, in welchem Verhältnis stehen gemessene und erschlossene Wirkung? Was muss Bildkritik über Effekte wissen?

Die Wirkungen von Gewaltbildern können sehr unterschiedlich, teilweise gegensätzlich ausfallen. Was die eine Person abschreckt, zieht die andere an. Die Gründe für beide Optionen sind zahlreich. Selbst wenn bei mehreren Personen eine ähnliche Wirkung erzeugt wird, zum Beispiel Angst vor Gewalt im eigenen Alltag, kann die Bildintensität variieren. Interessant finde ich, dass Anziehung und Abstoßung in einem Bedingungsverhältnis auftreten können: Wieso reizt mich ein potenziell schockierendes Bild, vor allem wenn ich die Gewalt, die es zeigt, moralisch ablehne? Diese Frage nach der Anziehungskraft von bestimmten Gewaltbildern versuche ich bild- und affekttheoretisch zu fundieren, um die künstlichen Entstehungsbedingungen diverser Wirkungsmöglichkeiten, wie etwa die perspektivische Erzeugung extremer Nähe zum medialisierten Gewaltereignis, kritisch einzuordnen. Ich untersuche Bildwirkungen dabei als Potenziale, nicht als quantitative Größen. Zur Messbarkeit von Wirkung müsste man vielleicht eher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der empirischen Medienwirkungsforschung oder der Neuroästhetik befragen.

Was lässt sich aus dem Kontrast von formloser (Handyvideo) und selbstreferenziell formvollendeter (Werbeplakat) Mitteilung lernen?

Zwar entstehen Handy- oder Augenzeugenvideos von Gewalttaten oft „im Affekt“ und scheinen in der Produktion kaum Gestaltungsraum herzugeben, doch fehlt es ihnen deswegen nicht an Form. Sie zeichnen sich häufig durch Verwackelung aus. Im Verbund der affektiven Bewegtheit und der körperlichen Bewegung der filmenden Person und der daraus resultierenden illusionsbrüchigen Ästhetik, die wiederum auf die Gewaltsituation rekurriert, können solche Bilder so unmittelbar, destruktiv und verstörend wie die Gewalt selbst erscheinen. Hier könnte man eine gewisse Formlosigkeit erkennen. Doch Formfragen im Sinne intentionaler Gestaltung bleiben wichtig. Unter allen Smartphonenutzerinnen und -nutzern sind natürlich auch Kriminelle, die ebendiese technischen Möglichkeiten zur Aufzeichnung und Verbreitung der eigenen Taten und Botschaften nutzen. Die scheinbare Formlosigkeit verwackelter Gewaltbilder bedeutete gerade dann ihre Formvollendung, wenn das hohe Affizierungspotenzial zum günstigen reizökonomischen Inszenierungsfaktor von Aufmerksamkeitsverbrechen wird. Spätestens hier ließe sich auch über Bildpropaganda diskutieren. Annette Vowinckel stellt am Ende ihres Textes die wichtige Frage, in welchem Verhältnis politische/militärische und – ich füge hinzu – aufmerksamkeitsverbrecherische Bildpropaganda und Produktwerbung stehen? Gerade die direkten Appelle an die Betrachtenden – wenn beispielsweise ein gestreckter Zeigefinger die Übertretung medialer Grenzen suggeriert – finden sich auf Rekrutierungsplakaten sowie in vielen terroristischen Propagandavideos. Wer Verbrechen verübt, will nicht nur ängstigen, sondern auch Sympathisanten mobilisieren; daher ist der Werbeaspekt interessant – auch vor dem Hintergrund der Komplizenschaftsdiskussion von Medienredaktionen, Nutzerinnen und Nutzern.

Ist es tatsächlich ein Spezialfall, dass Gewaltdarstellung und Gewaltvorstellung verknüpft werden – wie Sie schreiben –, wenn kaschierende Bildbearbeitung vorgenommen wird, oder gilt das eventuell grundsätzlich für Gewaltdarstellungen?

Darstellung und Vorstellung wirken nicht nur im Fall kaschierender Bildbearbeitung zusammen. Bildwirkungen ergeben sich aus einer Mischung aus den Sichtbarkeiten im Bild und dem, was wir uns beim Betrachten aufgrund unserer Bilderfahrung vorstellen – erinnerte Spielfilme, Dokus, Nachrichtenbilder, Games etc. Im schlimmsten Fall sind es gewaltvolle Alltagserfahrungen, die Teil unserer Projektionen auf Gewaltdarstellungen werden. Visuelle Entzüge durch Bildbearbeitung sind aber doch besonders, weil sie die Drastik und Explizität der Gewalt, in deren Kontext sie stehen, primär imaginär einfordern und auf diese Art kaum reflexiven Abstand zulassen. Gleichwohl kann eine Fremdzensur zwar aus ethischen Gründen – etwa um Opfer nicht identifizierbar vorzuzeigen – gewürdigt werden, doch ebenso suggerieren, dass etwas „zu hart“ für die Betrachtenden sei und so selbst Anreize schaffen, sich das Grausame mit dem Attraktionscharakter des Verbotenen oder des Tabubruchs anzusehen oder selbst nach dem unbearbeiteten Material zu suchen. Man muss natürlich weiter differenzieren. Eine Schwarzblende in einem Hinrichtungsvideo während des Tötungsmoments ist nicht das gleiche wie ein verpixeltes Leichenfoto. Hier spielen viele ästhetische und medienspezifische Faktoren mit hinein. Im Unterschied von Video und Foto ist etwa die Leidens- oder Gewaltakustik zu bedenken – gerade wenn eine Kombination aus visuellem Entzug und akustischer Präsenz etwa von Schüssen auftaucht.

Was bedeutet es, Terrorbilder als „analytische Gegenstände mit kritischem Eigenpotenzial“ anzusehen? Wie sinnvoll ist die Vorstellung vom Eigenleben der Bilder?

Mit dem Eigenpotenzial ist gemeint, dass nicht nur die Betrachtenden den Bildern semantische Potenziale zuerkennen oder die Affektstärke sich lediglich aus persönlichen Projektionen ergibt. Gewaltbilder können uns unerwartet und ungewollt treffen; sie können auch Überraschendes in uns auslösen – immer wieder. Wie beim Verhältnis von Gewaltdarstellung und Gewaltvorstellung geht es hier um eine Wechselseitigkeit zwischen Bild und Betrachtendem. Das Eigenpotenzial bezieht sich vor allem auf die affektiven Unmittelbarkeitseffekte der Bilder, durch die Dargestelltes und Darstellung kurzzeitig kongruent erscheinen können. Dieses Eigenpotenzial versuche ich als kritisches Instrument zu benutzen, indem ich bestimmte Bildeffekte auf ihre Entstehungsbedingungen hin befrage. Das Eigenleben, von dem Annette Vowinckel schreibt, bezog sich – so habe ich es verstanden – weniger auf affektive Unmittelbarkeitseffekte, die sich mit dem Topos der Lebendigkeit von Kunst beziehungsweise der illusionistischen Überbietung des künstlichen Status’ durch kunsteigene Mittel verbinden ließen, sondern eher auf die Deutungsmöglichkeiten von Bildern, die durch deren Re- und Neukontextualisierung variieren können. Ohne Zweifel aber sind das Eigenpotenzial und auch das Eigenleben von Bildern, ob auf affektiver oder semantischer Ebene, nicht voraussetzungslos oder einseitig, sondern immer verbunden mit den Rezeptionsmustern und -bedürfnissen der tatsächlich Lebenden – der Betrachtenden selbst. Insofern weisen uns beide Begriffe immer auf die Unumgänglichkeit differenzierter Kontextualisierung hin.

Was ist Ihre Lieblingsarbeit von Heartfield und was war eine Entdeckung im Katalog?

Ich hatte mich noch nie mit den Bucheinbänden von Heartfield beschäftigt. Dass er in Front- beziehungsweise Back-Cover und Buchrücken – so wie ich das verstehe – nicht nur aufeinander abzustimmende Einzelelemente sah, sondern von einem einzigen großen Bild ausging, ist beeindruckend.

Philipp Müller studierte Kunstgeschichte in Heidelberg und Hamburg. Seit März 2019 ist er Projektmitarbeiter der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe „Imaginarien der Kraft“ in Hamburg. Sein Dissertationsprojekt „Technische Gewaltbilder: Anziehung und Abstoßung“ befasst sich mit der Wirkung von drastischen Gewaltfotos und -videos in der aktuellen Berichterstattung und der zeitgenössischen Kunst.

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Anette Vowinckel (Potsdam):

Was ist Bildpropaganda?

[Unbekannt], Sicher in die Zukunft – CDU, Wahlplakat der CDU-Bundesgeschäftsstelle Bonn, 1994, https://www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/plakat-sicher-in-die-zukunft-cdu-1994.html, zuletzt am 14.6.2020

Der Begriff der Propaganda bezieht sich meist auf sprachliche Botschaften, aber auch Bilder sind in Form von Plakaten, Grafiken oder Reportagen zu propagandistischen Zwecken eingesetzt worden. Doch der Begriff der Propaganda ist selbst nicht unproblematisch, denn anders als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird er heute überwiegend abwertend benutzt. Anhand einiger Fallbeispiele, die von einem Poster der Britischen Armee von 1914 bis zu einem Wahlplakat der CDU von 1994 reichen, zeigt der Beitrag, wie Bildpropaganda konkret betrieben wurde.

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Annette Vowinckel ist Historikerin und Kulturwissenschaftlerin. Sie leitet die Abteilung „Zeitgeschichte der Medien- und Informationsgesellschaft“ am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und lehrt Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Kristina Jaspers (Berlin):

Dialektische Montagen? John Heartfield und Peter Jackson betrachten den Ersten Weltkrieg

They Shall Not Grow Old, Regie: Peter Jackson, 2018. Abtransport von Leichen und Verwundeten, stark koloriert

Der Erste Weltkrieg gilt als erster „Medienkrieg“. Die psychologische Kriegsführung nutzte erstmals auch Filmbilder als Propagandainstrument. Für John Heartfield wurde der verfälschende Umgang mit Frontbildern in der Presseberichterstattung zum Initial für die Entwicklung der Fotomontage. Er betrieb Aufklärung durch Offenlegung der inneren Widersprüche und Manipulationstechniken. Auch der Regisseur Peter Jackson möchte mit seinem Dokumentarfilm They Shall Not Grow Old (2018) über den Ersten Weltkrieg aufklären. Doch zeigt er nur Opfer, keine Verantwortlichen. Seine Techniken der Collagierung, der Bild- und Soundbearbeitung emotionalisieren und verklären. Was bedeutet dies für die Rezeption?

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Audiobotschaft von Kristina Jaspers

Fragen an Kristina Jaspers

John Heartfield war kurzzeitig für die Propagandaabteilung der Obersten Heeresleitung tätig und fertigte in der gleichen Zeit seine erste Fotocollage an, deren dialektischer Montagetechnik aufklärerische Effekte bescheinigt werden. Peter Jackson, der ausdrücklich „aufklären“ möchte, setzt mit seiner Bearbeitung dokumentarischer Aufnahmen absichtlich oder unabsichtlich die alten Propagandastrategien der Kriegsministerien fort. Wie kann man zwischen guter und schlechter Propaganda unterscheiden?

Man könnte vorab fragen, ob es überhaupt gute Propaganda geben kann, oder ob diese Form von Verknappung und Einflussnahme nicht generell abzulehnen ist? Heute wird dieser Bereich ja zumeist vermeintlich harmloser als „Werbung und Öffentlichkeitsarbeit“ tituliert. Heartfield jedenfalls richtete 1917, bevor er selbst für die Nachrichtenabteilung des Auswärtigen Amtes tätig wurde, an die Presseabteilung die Bitte, zunächst ausländische Propagandafilme studieren zu dürfen.(1) Was genau wollte er daran lernen?

Ein guter Seismograf ist zumeist der Humor, der in der Propaganda zum Tragen kommt: Ist es eher ein dumpfer, diskriminierender Buddy-Humor oder ein bitterer, entlarvender Spott, der im Halse stecken bleibt? Das von Jackson verwendete Footage-Material des Britischen Propagandaministeriums hat einen hohen Fun-Faktor: Selbst der Sturz der Soldaten vom Donnerbalken in die Jauchegrube dient der allgemeinen Belustigung. Nachdenklichkeit oder Trauer werden dadurch jedoch nicht evoziert. Ich denke, letztlich geht es um die jeweilige Intention, die hinter der Propaganda steht. Wird ein Diskurs mit dem Publikum angestrebt? Sollen Widersprüche offengelegt werden, oder geht es eher um Glättung und Verschleierung? John Heartfield verfolgte ja durchaus eine politische Agenda. Er verstand sich als Pazifist, Internationalist, später als Antifaschist und eben auch als Kommunist. Bereits 1918 war er in die Kommunistische Partei eingetreten. In den 1920er Jahren schuf er Werbemedien für die Agitpropabteilung des Zentralkomitees der KPD(2) und in den 1930ern über 200 Fotomontagen für die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung. Als gelerntem Werbegrafiker ging es ihm vorrangig um „Wirksamkeit“, er sah in der Fotomontage ein Mittel für den Kampf der Arbeiterklasse. Heartfield wollte das Publikum jedoch nicht täuschen, sondern zum Nachdenken, zum Infragestellen anregen. Roland März hat Heartfields Strategie mit Blick auf Brecht sehr gut herausgearbeitet: Es gehe beiden Künstlern um „Denkanstöße“, um die „Aktivierung des Betrachters“, um dessen „Befähigung [...] zu einer engagierten Haltung und zu einem kritischen Bewusstsein, zu eigenständigem Denken und Urteil“.(3)

Peter Jackson ist nicht an einer Dialektik der Aufklärung gelegen, als Spielfilmregisseur sucht er die perfekte Illusion. Dafür fährt er, um im militärischen Jargon zu bleiben, starke Geschütze der Bildbearbeitung auf. Verblüffend finde ich, dass das Feuilleton dieser visuellen Materialschlacht recht unkritisch gefolgt ist. Das einhellige Lob der Journalistinnen und Journalisten (Rotten Tomato führt eine Zustimmung von 99 Prozent an), das überwiegend den filmtechnischen Errungenschaften gilt, irritiert. Die reine Aufzählung der Superlative („erstmals in Farbe und 3-D“, „so sahen wir den Ersten Weltkrieg noch nie“) rückt sowohl die inhaltliche propagandistische Ausrichtung als auch ethische Aspekte der Filmrestaurierung in den Hintergrund. Die Frage bleibt natürlich, ob „schlechte Propaganda“ eher „unwirksame Propaganda“ meint, die schlicht wenig gekonnt ist, oder ob es um das gezielte Lügen und Täuschen geht, das Heartfield in der Kriegspropaganda seiner Zeit erkannte und das ihn als Künstler zum Widerspruch herausforderte.

Gerd Kroske sieht Indizien für eine „generelle Abstumpfung der Betrachter“ durch die massenhafte Verbreitung schockierender Amateurvideos und erneuert damit eine alte Hypothese zu den Wirkungen massenmedialer Bildberichterstattung. Wieso tritt keine „Entkräftung der Bilder“ ein? Anders gefragt: Warum behalten die Bilder ihre Wirkungsmacht, obwohl anscheinend die Wirkung auf die Betrachter nachlässt?

Ich bin unsicher, ob die These von der „Abstumpfung der Betrachter” tatsächlich stimmt. Auch hier würde ich von „aktiven Rezipienten“ ausgehen, wie sie die Sozialforschung bisweilen postuliert. Das Publikum wählt mehr oder weniger bewusst aus, welche Informationen und Bilder es an sich heranlässt. Das Problem wäre dann nicht generell die Reizüberflutung, sondern die Frage nach der Auswahl der konsumierten Bildmedien. Ich glaube, dass Bilder auch heute noch aufrütteln, verstören und auch aufklären können – ob es nun um alltäglichen Rassismus, Klimawandel oder Tierverwertungsketten geht. Medienkompetenz meint dann nicht nur die Möglichkeit, zwischen Fake und Realität zu unterscheiden (oder dies zumindest zu versuchen, was u. a. Kenntnisse über Wirkungsweisen von Montagetechniken voraussetzt), sondern vor allem auch, Informationskanäle einschätzen zu können, über die diese Bildmedien vermittelt werden, und den eigenen Konsum dieser Bilder steuern zu können.

Wie geschehen „Einschreibungen in das kollektive Bildgedächtnis von uns Menschen“? Ist das Gedächtnis eher Schreibstoff oder vielleicht doch selbst schreibende Instanz? Peter Jackson scheint ein ernüchterndes Beispiel dafür zu bieten, dass es auch so etwas wie Übersättigung oder Verstopfung des Bildgedächtnisses gibt. Adressierte auch John Heartfield in seiner künstlerischen Praxis ein kollektives Subjekt beziehungsweise Speichermedium?

Spannende Frage! Gerade Film und Fotografie funktionieren ja als eine Art Speichermedium des kollektiven Gedächtnisses, indem sie Ereignisse (scheinbar) dokumentierten und damit immer aufs Neue festschreiben. Die Möglichkeit zur Geschichtsinterpretation und -umdeutung wurde daher auch von Anbeginn der Foto- und Filmgeschichte genutzt. Fiktionalisierungen und Re-Enactments historischer Ereignisse können der kollektiven Trauma-Verarbeitung dienen, sie können aber genauso reale Einzelerinnerungen überschreiben. Susan Sontag, die der Fotografie einen „tieferen“ Erinnerungseindruck zuschrieb als dem Film, notierte anlässlich von 9/11, man würde heute nicht mehr sagen, eine unfassliche Katastrophe erscheine „wie im Traum“, sondern man erlebe sie „wie im Kino“.(4) Peter Jackson adressiert seinen Film an ein kollektives Kinopublikum, das den Krieg nicht aus eigener Anschauung kennt, sondern eben diese Bilder (Kriegsdarstellungen aus Filmen wie Saving Private Ryan, Regie: Steven Spielberg, 1998 ,oder Fantasyformate wie World of Warcraft, Computer-Game, 2004–2019) abrufen kann. Auch Heartfield hatte kollektive Zielgruppen (wie die linke Leserschaft der AIZ) im Blick, adressierte aber zugleich Individuen, die jeweils eigene Erfahrungen in ihre Bild-Interpretation einbringen.

Was ist Ihre Lieblingsarbeit von Heartfield und was war eine Entdeckung im Katalog?

Die Fülle an Material in Ausstellung und Katalog, das auch heute noch Denkanstöße gibt, ist enorm und die Wucht der Original-Montagen packt nach wie vor! Im Kontext einer Ausstellung zum „Kino der Moderne“ habe ich mich erstmals mit Heartfields und Groszs Filmprojekten beschäftigt und freue mich jetzt über den filmischen Schwerpunkt in der Ausstellung und die Entdeckung der Hohlglasfabrikation (1918/19). Im Katalog hat mich besonders Angela Lammerts Aufsatz zu den Gräuelbildern bewegt, gerade auch durch den fast zärtlichen Umgang mit Leichenbildern bei Heartfield. Mein Lieblingsexponat? Vermutlich die Original-Montage Fünf Finger hat die Hand (1928). Oder doch das Foto vom weißen Kaninchen, das Heartfield aus dem Zylinder zaubert, aus dem britischen Exil? Eine echte Überraschung waren für mich der Brief und Beitrag von Jeff Wall. Seine berühmte Arbeit zum Afghanistan-Krieg Dead Troops Talk (A vision after an Ambush of a Red Army patrol, near Moqor, Afghanistan, winter 1986) von 1991/92 kann auch als Fortschreibung von Heartfields So sieht der Heldentod aus (1917/18) gelesen werden. Hierzu noch einmal Susan Sontag: Dieses Bild ist „das Gegenteil von einem Dokument. [...] Die Gestalten [...] sind ‚realistisch‘, aber das Bild selbst ist es natürlich nicht. Tote Soldaten sprechen nicht. Hier tun sie es.“(5) Und gerade das ist an der Arbeit bemerkenswert. Anders als bei Jackson kommen hier nicht die Überlebenden zu Wort, sondern die Toten. Sie verständigen sich untereinander, sie blicken uns nicht an. Wie bei Heartfield sind wir mit dem Bild allein gelassen und müssen unseren Weg der Auseinandersetzung finden.

 

(1) Siehe Brief in: Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg, Anna Schultz (Hg.), John Heartfield. Fotografie plus Dynamit, Ausst.-Kat., München 2020, S. 114, fortan Lammert u. a. 2020

(2) ...die allerdings nicht unumstritten waren, siehe den Beitrag von Andrés Mario Zervigón: Produktive Beziehungen. John Heartfield und Willi Münzenberg, in Lammert u. a. 2020, vgl. Anm. 1.

(3) Roland März, Über den Verfremdungseffekt in den Photomontagen John Heartfields, in: Roland März, Gertrud Heartfield (Hg.), John Heartfield. Der Schnitt entlang der Zeit, Dresden 1971, S. 501–519, hier S. 502.

(4) Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, übers. von Reinhard Kaiser, Frankfurt am Main 2005, S. 28f., fortan Sontag 2005

(5) Sontag 2005, vgl. Anm. 4, S. 143–147

Kristina Jaspers ist Kunsthistorikerin und Philosophin. Als Kuratorin der Deutschen Kinemathek in Berlin hat sie über 20 Sonderausstellungen über Psychologie und Film, Production Design und Storyboards, zu F.W. Murnau, Ingmar Bergman, Ulrike Ottinger und Martin Scorsese konzipiert. Sie hat zahlreiche Publikationen zur Intermedialität von Film, Kunst und Kulturgeschichte veröffentlicht, zuletzt „Tempo! Tempo! Tempo! Das Bauhaus und der Film“, in: Film-Dienst 07 (2019); sowie Katalogkonzept und Beiträge in: Kino der Moderne. Film in der Weimarer Republik, 2018.

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Gerd Kroske (Berlin):

PIXELVISIONS. Wenn Bilder zu Waffen werden

Gerd Kroske, Raketentreffer in Westjordanland, 2015

Der Essay beschäftigt sich mit der Fragestellung nach der veränderten populären Bildwahrnehmung jüngster Zeit. Der inhärente Authentizitätsanspruch von Amateurbildern hat die öffentliche Aufmerksamkeit derart an sich gezogen, dass sie das professionell hergestellte dokumentarische Bild von seinem Platz verwiesen: Sie beherrschen die Nachrichten und Social-Media-Kanäle und prägen damit unseren Blick auf die Welt. Das undefinierbare Potenzial scheint wiederum nur über die Montage als künstlerisch reflektierte, kritische Form beherrschbar, wie es die installativen Arbeiten von Forensic Architecture exemplarisch veranschaulichen. Die Frage bei all dem ist, was zeigen uns die hochauflösenden Bilder heute und was verdecken sie dabei womöglich auch?

Hier geht es zum vollständigen Beitrag (PDF)

Fragen an Gerd Kroske

Sie sehen Indizien für eine „generelle Abstumpfung der Betrachtenden“ durch die massenhafte Verbreitung schockierender Amateurvideos und erneuern damit eine alte Hypothese zu den Wirkungen massenmedialer Bildberichterstattung. Wieso tritt keine „Entkräftung der Bilder“ ein? Anders gefragt: Warum behalten die Bilder ihre Wirkungsmacht, obwohl anscheinend die Wirkung auf die Betrachtenden nachlässt?

Als der Erfinder der Fernbedienung, ein Lagerarbeiter mit dem Namen Eugene Polley (später „Dr. Zapp“ genannt), 1955 seine erste Fernbedienung „Flash Matic“ erfand, sah man das Ende des jungen Mediums TV bereits gekommen. Das, was dieses taschenlampengroße Gerät versprach und auch ermöglichte, war Bequemlichkeit bei der Auswahl und beim Ansehen der Bilder vor dem Fernsehgerät. Die Sorge der Programmverantwortlichen war groß, denn sie gingen davon aus, dass die Konzentrationsfähigkeit der Zuschauenden durch das „Zappen“ im Programm leiden werde. Das Gegenteil davon ist der Fall, denn mit den schnellen Programmwechseln des Publikums mittels der Fernbedienung ging ein neurologisches Erlernen bei der Bildaufnahme einher, um mit den flinken Bildwechseln mitzukommen. Infolgedessen veränderten sich Dramaturgien in Fernsehspielen, die Berechnung der Einspielung von Werbeblöcken etc. Das Fernsehpublikum (man kann sagen) „trainierte“ geradezu beiläufig auch das selektive Sehen und die Filterung des Bildangebotes. Das Medium Fernsehen hatte mit dieser Erfindung Dr. Zapps Einfluss auf die Geschwindigkeit des fovealen Systems der Menschen, also deren Fähigkeit, ein wahrgenommenes Bild in einzelnen zufälligen Punkten zu fixieren und zu erkennen. Das, was in der Neurologie Fixationszeit(1) heißt, ist nichts anderes als das Vermögen, binnen Bruchteilen von Sekunden ein Bild aufzulösen. Und diese Auflösungsgeschwindigkeit von Bildern verändert sich seither rasant. Was ich verkürzt als „Abstumpfung“ in der Betrachtung von Gräuelvideos bezeichne, ist zweierlei: zum einen eine Selektion der Bilder durch die Betrachtenden in verkürzter Fixationszeit und zum anderen eine „Überschreibung“ bisheriger Bilder im visuellen Cortex mit potenziell einhergehendem Sensibilitätsverlust. Bildbetrachtung ist, wie Sinneswahrnehmungen im Allgemeinen, von Selektion(2) und Inferenz geprägt – also der Auswahl eines kleinen Teils des Reizspektrums und der Hinzuziehung von weiteren Informationen. Zu fragen wäre demnach, ob die Wirkung von Bildern tatsächlich nachlässt oder ob nicht vielmehr eine Quantifizierung ihrer Wirkung stattfindet, wenn sich unsere Aufnahmefähig- und Geschwindigkeit erweitert. Denn es sind ja gerade die visuellen Wahrnehmungen des Menschen, die deren Hirnareale von Gefühlen, Erinnerungen und Erwartungen nachhaltig beeinflussen.

Wie geschehen „Einschreibungen in das kollektive Bildgedächtnis“ von uns Menschen? Ist das Gedächtnis eher Schreibstoff oder vielleicht doch selbst schreibende Instanz? Peter Jackson scheint ein ernüchterndes Beispiel dafür zu bieten, dass es auch so etwas wie Übersättigung oder Verstopfung des Bildgedächtnisses gibt. Adressierte auch Heartfield in seiner künstlerischen Praxis ein kollektives Subjekt beziehungsweise Speichermedium?

Das „Wie der Einschreibungen“ ist ein großes Thema. Vielleicht kommt man ihm nahe, wenn man sich der Geschichte einzelner Bild-Motive und Topoi und deren Wirkung nähert. Das gelänge auch mit Heartfield, dessen Bildmotivik sich ja gerade auf das Bildgedächtnis der Betrachtenden beruft (zum Beispiel in seiner Arbeit Wie im Mittelalter … so im Dritten Reich, einer Originalmontage für die AIZ, 1934)(3) Seine Motivik zielt geradewegs auf den affektiven Erinnerungsgehalt eines Bildes (hier aus der christlichen Emblematik).

Unser „ikonisches Gedächtnis“ basiert auf Bildwahrnehmungen, die zum Teil den Bruchteil einer Sekunde ausmachen können, oder blitzlichtartigen Erinnerungen (in der Neurologie als „flashbulb memories“ genannt), die sich in ihrer fotografischen Präzision ein Leben lang, wie auf der Netzhaut eingebrannt, erhalten. Diese Bilder erleben ihre dauerhafte Einschreibung und werden zum Inventar des Bildgedächtnisses. Aufgeladen werden sie, wenn sich hinter dem Bild eine überlieferte Geschichte vermittelt. Der affektive Gehalt des Bildes erhöht sich durch diese Information zusätzlich. So können sich Bilder und das Wissen darum gegenseitig stimulieren. Als lohnende Quelle findet sich im „Handbuch der politischen Ikonografie“ hier ein umfangreiches Material.(4)

(1) Vgl. Alfred L. Yarbus, Eye Movements and Vision. New York 1967

(2) Vgl. Werner Stangl, Stichwort: „Selektive Wahrnehmung'“, in: Lexikon für Psychologie und Pädagogik. 2020, lexikon.stangl.eu/1708/selektive-wahrnehmung, zuletzt 13.7.2020

(3) Vgl. https://heartfield.adk.de/node/3519

(4) Uwe Fleckner, Martin Warnke und Hendrik Ziegler (Hg), Handbuch der politischen Ikonographie. Band I: Abdankung bis Huldigung.  Band II: Imperator bis Zwerg. München 2011

Gerd Kroske arbeitete von 1987 bis 1991als Autor und Dramaturg im DEFA-Dokumentarfilmstudio, seit 1991 ist er freischaffender Autor und Regisseur. Eine umfangreiche Retrospektive seiner dokumentarischen Arbeiten fand im Januar/Februar 2020 im Österreichischen Filmmuseum, Wien statt. „Pixelvisions“ ist der Arbeitstitel eines entstehenden Dokumentarfilms, der sich mit den veränderten Bildwahrnehmungen beschäftigen soll.

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Künstlerbeitrag: Rithy Panh (Paris/Phnom Penh):

Irradiés ‒ Bestrahlt

Rithy Panh (Regie), Irradiés, 2020, Film still

„Dichtung nach Auschwitz ist unmöglich? Ich plädiere für mehr Poesie, mehr Schöpfung, mehr Freiheit ...“

Hier geht es zum vollständigen Beitrag (PDF)

 

Rithy Panh, geboren in Kambodscha, ist Filmemacher, Schriftsteller und Produzent. Er führte bei zahlreichen international gefeierten Filmen Regie, darunter S21: The Khmer Rouge Killing Machine (2004), The Missing Picture (2013), der beim Filmfestival von Cannes den Grand Prix in der Sektion „Un Certain Regard“ gewann, und Irradiés (2020) der bei der 70. Berlinale mit dem Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet wurde.

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