1989

Claus Weidensdorfer

Angeregt durch seine Lehrer Hans Theo Richter und Max Schwimmer entwickelt der Zeichner und Grafiker Claus Weidensdorfer seit den 1950er Jahren eine eigene Zeichen- und Formsprache. Der Künstler ist ein feinsinniger Beobachter und Zeichner von (Stadt-) Landschaften, Porträts sowie dramatischen, skurril-grotesken bis hin zu erotischen Szenerien. Der Mensch in seiner Umgebung und das soziale Miteinander interessieren ihn ebenso wie Themen aus Kunstgeschichte, Musik und aktuellem Zeitgeschehen. Ironie und Humor sind seine treuen Begleiter.

Textbeiträge zur Preisverleihung

„Mit der Entdeckung der Poesie im Alltäglichen gewann er eine eigene Welt, von der er mit Freundlichkeit, Verständnis und Heiterkeit zu erzählen weiß.“ (Auszug Begründung)

Claus Weidensdorfer sucht und findet seine Stoffe vorrangig in den Lebensbereichen und im Lebensrhythmus unseres Alltags. Ihn interessiert das Individuelle des Mitmenschen ebenso wie der heimatliche Landschaftsausschnitt. Weidensdorfer ist vor allem Zeichner. Auch seine Radierungen und Lithografien sind vom Linearen bestimmt. Seine Grafit- und Federzeichnungen wirken frisch und lebhaft als unmittelbare Niederschrift des Erlebten. Die Farbe wurde zunächst behutsam und als Kolorierung in die Federzeichnungen aufgenommen. Spätere Aquarelle und besonders die Gouacheblätter sind ganz auf der Farbe aufgebaut und zeigen einen Hang zum Stilllebenhaften. Wirkte zunächst der Einfluss seiner Lehrer Hans Theo Richter und Max Schwimmer fort, so fand Weidensdorfer bald in den Blättern Chagalls, Kubins und besonders Beckmanns wesensverwandte Züge, aus deren Bewusstwerden er Selbstbestätigung und Bestärkung schöpfte.

Mit der Entdeckung der Poesie im Alltäglichen gewann er eine eigene Welt, von der er mit Freundlichkeit, Verständnis und Heiterkeit zu erzählen weiß. Das Thema Jugend regt ihn immer wieder zur bildnerischen Gestaltung an. Er ist bemüht, das Lebensgefühl und die Lebensäußerungen der heranwachsenden Generation zu erspüren und in seinen Arbeiten differenziert wiederzugeben. Das Verhältnis der jungen zur älteren Generation tritt als künstlerisches Thema zu diesem hinzu. Damit gewinnt der Künstler Möglichkeiten der Gestaltung, die ihm das gesellschaftliche Leben in seiner Vielfalt zu erfassen erlauben. Auch seine programmatischen Lithografien Brücken sind keine Startbahnen (1982) und Gegen die Zerstörung kultureller Werte (1983/84) erweisen die klare Stellungnahme des Künstlers für den gesellschaftlichen Fortschritt.

Die Sektion Bildende Kunst der Akademie der Künste der DDR schlägt Claus Weidensdorfer zur Auszeichnung mit dem Käthe-Kollwitz-Preis in der Überzeugung vor, dass die Arbeiten dieses Künstlers in spezifischer Weise dem Bekenntnis von Käthe Kollwitz „Ich will wirken in dieser Zeit“ entsprechen.

Laudatio, vorgetragen von Harald Metzkes anlässlich der Preisverleihung am 6. Juli 1989, veröffentlicht in „Mitteilungen“ Nr. 5/6, September–Dezember 1989

Ich weiß nicht, ob man in diesem Augenblick Claus Weidensdorfer als —sehr geehrt — ansprechen darf, das kann er in dieser Situation nur selbst beurteilen, und ich frage, in dem Wunsch zusammenhängend zu reden, nicht danach, wie er sich fühlt. Deshalb fliehe ich wieder zum subjektiven Adjektiv:

Lieber Claus Weidensdorfer,

indem wir Dir heute den Käthe-Kollwitz-Preis geben, ehren wir heute den Käthe-Kollwitz-Preis mit Dir.

Bedenken wir, Claus Weidensdorfer hat seine Reputation, aber der Preis, als ein Ding, dem wir per Mehrheit den Charakter immer wieder neu verleihen müssen, ist in seinem ideellen Wert ein wankelmütiges Wesen. Ist dieses Wesen an Addition gebunden? Hängen wir an eine Namenskette heute einen weiteren Namen an, oder kann man nicht wie ein Facettenschleifer darauf hoffen, ein Gebilde zu schaffen, dessen Leuchten größer wird mit jeder neu hinzukommenden Fläche, die in eine immer wieder neue dritte Dimension führt?

Claus Weidensdorfer wandert in sich und im Leben herum. Sicher kann man auch in sich und im Leben oder der Welt immer an einem Fleck sitzen, und man könnte lange darüber streiten, was für wen besser ist. Aber wir haben heute Claus Weidensdorfer zu Gast und wollen uns ihm nähern. Fragen wir also, ob er zu Doppelwanderung oder Doppelverharren neigt. Antwort gäbe uns sicher nicht, wenn wir wüssten, wie es um die Verbindung seines Ich zu den anderen steht, wenn das auch durch Umfrage zu erfahren wäre. Stellen wir uns also eine schwerere Aufgabe und fragen uns: Ist Wandern oder Verharren nicht eher eine philosophische Frage als eine methodologische? An diesem Punkt angelangt, ist festzustellen, dass man dorthin, wo man ohne innere Beteiligung und Anrührung gelangt, eigentlich gar nicht hingelangt.

Diese Nachricht des Hingelangens, selbstverständlich auch für uns Fremde, geben seine Blätter. So nimmt durch ihn gelegentlich das Fremde in uns Wohnung, es beunruhigt uns und wir wissen nicht, was daraus wird. Fontane, Der Stechlin, Seite 263: „Außerdem, ein richtiger Märker hat Augen im Kopf und ist beinahe so helle wie’n Sachse.“
Wenn man mir erlauben würde, hinter „Märker“ ein Komma einzumogeln: Außerdem, ein richtiger Märker, hat Augen im Kopf und ist beinahe so helle wie’n Sachse. So wäre mein Wunsch, eine einfache Charakterisierung zu finden, der Erfüllung sehr nah. Denn wer ist schon Märker? Fontane ist es nicht, Weidensdorfer nicht, E.T.A. Hoffmann nicht, und ich bin es auch nicht.

Es gibt sympathetische Mittel in der Sprache, die das Unvereinbare verschmelzen, äußeren Unsinn mit innerem Sinn erfüllen und uns Formulierungen mit Begeisterung verschlingen lassen. Den „Märker“ haben wir als Fontaneisches Synonym für Charakter, Augen im Kopf — das ist in hohem Maß unbestreitbar, Sachse — ja, helle —was ist damit?

Das Wort — hell — führt mich zuallererst auf Weidensdorfers Papiere, den Anfang des entstehenden Blattes. Manches hat er uns davon erhalten, das Wort — licht — könnte das auch bezeichnen, eine in Schönheit verwandelte Gegenständlichkeit. Auf diesem Blatt, in diesem Zustand findet er aber Zeichen, denen er folgt. Die „Augen im Kopf“ werden – oder deren Funktion wird – von allgemeinen Sinneseindrücken überlagert, wie die erste Zeichnung nun unter einer zweiten, einer dritten und einer weiteren Farbschicht sich verdunkelt. Es ist der Weg auf die andere, unbeleuchtete Seite des eigenen Globus, auf die in E.T.A. Hoffmanns Der goldene Topf der Student Anselmus geht. Anfangs auf den Elbwiesen, am Linkeschen Bad, alles normal, wie es jeder kennt, bis er an die Tür tritt, deren Türklopfer, das Kommende vorausdeutend, sich in eine Fratze verwandelt. Bei E.T.A. Hoffmann ist das, was hinter der Tür vorgeht, in besondere gleißende Helle getaucht, ins Violette spielend. Davon finde ich Strahlen in Weidensdorfers dunkelsten Blättern funkeln.

Man erlaube mir, das Bild des Facettenschleifers zu wiederholen. Heute betrachten wir das Werkstück mit größter Freude, denn es leuchtet wie beschrieben aus der Tiefe. Diese ist tiefer als die Abmessungen des Steines oder des Preises es möglich erscheinen lassen — jedenfalls mit den Augen des Archivars Lindhorst aus dem erst erwähnten Buch betrachtet.