1996

Martin Kippenberger

Martin Kippenberger hinterlässt bei seinem frühen Tod ein komplexes Œuvre, das neben Gemälden, Zeichnungen und Druckgrafiken auch Skulpturen und Installationen umfasst. Im Mittelpunkt steht er selbst als Künstler und Akteur in der eigenen gelebten Welt. Spontan agierend und reagierend reflektiert er Themen aus Kunstgeschichte, Politik, Gesellschaft, Popkultur und Musik. „In seiner Selbstüberzeugtheit hat Kippenberger genau das immer angepeilt: Vorbild sein, aufs Ganze gehen – bis zum Äußersten. Wie Dürer hat er sich in der Rolle des Erlösers gesehen, allerdings nicht andächtig mit Wallehaar, sondern als Gekreuzigter [...] Ob Spiderman, Matisse oder Jesus – immer wieder hat sich Kippenberger ins Verhältnis zu den Großen gesetzt, sich an den Heroen der Kunst abgearbeitet.“ (Nicola Kuhn, 2019)

Textbeiträge zur Preisverleihung

„Kippenbergers Tun ist permanenter Kommentar des Alltäglichen, seine künstlerischen Äußerungen sind (meist) ins Absurde getriebene Wahrheiten.“ (Auszug Begründung)

Martin Kippenberger zählt zu den bedeutendsten Vertretern einer Künstlergeneration, die in den frühen achtziger Jahren im Zusammenhang mit der Wilden Malerei ihre ersten Erfolge feierte. In Berlin trat er als Mitbegründer und Geschäftsführer des Clubs SO36 auf. Zusammen mit Gisela Capitain eröffnete er 1978 in Berlin den Ausstellungsraum Kippenbergers Büro. Zahlreiche Ausstellungen und Aktionen haben bisher sein Werk international bekannt gemacht. Martin Kippenberger nutzt jede Möglichkeit, in das aktuelle Kunstgeschehen einzugreifen. Er arbeitet mit den Mitteln der Malerei, Zeichnung und Fotografie, der Plastik, Objektkunst, Musik und Sprache, er verlegt Bücher, hält Vorträge und ist Museumsdirektor ...

So ist bis heute ein außerordentlich komplexes Gesamtkunstwerk entstanden, was nicht heißen will, dass dieses als abgeschlossen zu betrachten wäre. Kippenbergers Tun ist permanenter Kommentar des Alltäglichen, seine künstlerischen Äußerungen sind (meist) ins Absurde getriebene Wahrheiten. Alles, was er macht, ist Programm – mit dem Ziel, eine Gegenreformation zu schaffen. Kippenberger durchbricht bürokratische Hierarchien, stülpt das Innen nach außen und erzielt damit eine Verquickung heterogener Phänomene. Zur Verdeutlichung seiner künstlerischen Inhalte benutzt Kippenberger jedes geeignete Mittel. Seine Arbeiten sind konsequent und zwingen den Betrachter, die Augen auf Dinge zu richten, die lieber im Verborgenen geblieben wären.

Der Jury gehörten an: Lothar Böhme, Wolfgang Petrick und Werner Stötzer

Laudatio (Transkription des Tonmitschnitts), vorgetragen von Jörn Merkert anlässlich der Preisverleihung am 16. März 1997:

Sehr geehrte Frau Susanne Kippenberger,
sehr verehrte Astrid Klein,
meine Damen und Herren,

ich will gar nicht erst versuchen in dieser kleinen Laudatio auf Martin Kippenberger, die zwangsläufig ein Nachruf ist, seine Biografie nachzuzeichnen, was zugleich hieße, seine künstlerischen Stationen zu beschreiben, angefangen mit den Arbeiten seiner Kindheit. Nicht über sein artistisches Konzept will ich reden, das mit allen Mitteln und Medien, mit allen Berufen und Rollenspielen unter Gleichsetzung des Lebensvollzugs mit der Kunst auf Verballhornung und freche Verfremdung aus war, auf die Entthronung solcher künstlerischen Findungen zielte, in denen wir jeweils die Spiegelung unserer Zeit gefunden und ihnen damit den Stachel genommen haben. Ich will Martin Kippenberger und seine Kunst, jetzt, da er tot ist, auch nicht in die lange Tradition des Künstlers als Narren stellen, dessen jede Gesellschaft zu jeder Zeit so bitter nötig bedurft und bedarf, um sich selbst zu erkennen. Ebenso wenig will ich auch nur im Ansatz versuchen, eine kongeniale Preisrede zu halten, denn dann müsste ich Sie, meine Damen und Herren, beschimpfen, provozieren, mich mit Sarkasmus über Sie lustig machen, Ihnen am Sonntagmorgen Kopfschmerzen bereiten, Ihnen gehörig auf die erhabensten Erfindungen treten, Ihnen ein Ärgernis mit auf den Weg geben, das etwas länger anhält und ich müsste wenigstens versuchen, Sie allesamt absichtsvoll zu beleidigen. Ich müsste zum Beispiel in die Rolle des Eiermanns schlüpfen und Sie vergackeiern, um auf Kippenbergers derzeitige Ausstellung unter dem Titel „Eiermann und seine Ausleger“ in Mönchengladbach anzuspielen.

Aber ich wäre in der Gefahr des Rituals. Denn auch das Anti-Ritual ist ein Ritual. Kippenberger wusste immer um diese Gefahr. Er hat sich ihr immer gestellt und ist ihr selbst nicht immer entkommen. Man kann nicht ewig protestieren. „Ewig währt am längsten“, sagt Kurt Schwitters. Man kann aber versuchen, ein Leben lang zu protestieren und sich zu wehren. Nicht nur, weil man sich beleidigt fühlt, sondern weil man verletzt und schamlos beleidigt ist durch das Leben und was die Menschen daraus gemacht haben, wie sie sich eingerichtet haben in selbsttrügerischen Kompromissen und beharrlicher, kalter Gleichgültigkeit als Überlebensstrategie. Eine solche Kälte ging Martin Kippenberger als Moralist, der er auch immer war, immer ab. Aber er hat nicht geschrien, er hat gelacht. So sehr gelacht, dass die Kalten und Gleichgültigen empört waren. Ja, man kann ein Leben lang protestieren und sich wehren ohne in die abgenutzte Rolle des Protestlers und Verweigerers zu rutschen. Ja, dies ist Martin Kippenberger ein Leben lang gelungen. Aber ewig wäre es nicht gegangen. Unter diesem Aspekt kam der Tod im rechten Moment zu Kippenberger. In dem Moment, wo zwei Ausstellungen von ihm gleichzeitig zu sehen sind – die schon erwähnte in Mönchengladbach und dann seine Retrospektive, die er genannt hat „Retrospektive 1997–76“ in Genf – und jetzt seine dritte Ausstellung zur Verleihung des Käthe-Kollwitz-Preises hier in der Akademie. Seine Beteiligung an der bevorstehenden Münsteraner Skulptur-Ausstellung und an der 10. documenta in Kassel in diesem Jahr.

Wenn all dies bedeutet, er hätte an der Schwelle seines Ruhms endlich auch in Deutschland gestanden, dann ist er auch unter diesem Aspekt zur rechten Zeit abgetreten. Denn wie wäre er nur damit umgegangen? Er hätte erneut, Chamäleon und Multitalent das er war, in eine andere Rolle schlüpfen müssen, die Rolle des Erfolg- und Rumreichen, die er noch nicht erprobt hatte. Zwar hat er mit seinem närrischen Treiben diese Rolle oft genug für sich beansprucht und dabei ad absurdum getrieben. Aber er musste sie ja nicht tatsächlich ausfüllen, er konnte ja so tun als ob. Aber auch Kippenberger konnte sich nicht, wie er das beschrieb, „jeden Tag ein Ohr abschneiden“, van Gogh hier machen oder Mozart da machen. Oder die Kugel da wälzen, ist eh „schon anstrengend genug“. Was hätte er nur mit seinem Rum getan? Was hätte er Neues gefunden oder erfunden, um die Last seines Erfolgs zu tragen? Wie hätte er ihn genutzt und wofür? Oder wogegen?

Martin Kippenberger ist tot. Wie heißt das kleine Gedicht von Simon Dach von 1648? „Seht, wie was lebt, zum Ende läuft. Wisst, dass des Todes Rüssel mit uns aus einem Glase säuft und frisst aus einer Schüssel.“ Die Auszeichnung, die ihm heute posthum verliehen wird, ist ihm für das vergangene Jahr zuerkannt worden. Es ist müßig, Ihnen hier erläutern zu wollen, warum die Akademie der Künste mehr als ein Jahr benötigte, um diesen Preis tatsächlich öffentlich zu überreichen. Dass Ausstellung und Preisverleihung nun zur Totenfeier geraten, würde Martin Kippenberger wahrscheinlich köstlich amüsieren. Das ist die Prise Sarkasmus, die er nicht auch noch auf diese Preisverleihung streuen musste, sondern die ihm der so oft verhöhnte Kulturbetrieb selbst als Gewürz bereitstellte. Ein klein wenig hat er aus Amüsement allerdings selbst noch gegen die drohende kleinbürgerliche Veranstaltung dazugetan. Er ist eben rechtzeitig gestorben. Damit hat er sich, was sonst wohl gar nicht seine Art war, allerdings dem kleinen Schaustück des praktizierten Surrealismus entzogen, das eine solch offizielle Preisverleihung auch immer darstellt. Aber wäre er noch unter uns, hätte er diese Auszeichnung einfach so hingenommen? Hätte er etwas dazu zu sagen gehabt, dass er, ausgerechnet er, den Käthe-Kollwitz-Preis bekommt? Einen Preis, der den Namen einer Künstlerin trägt, die für viele immer noch als der Inbegriff des Guten und der Menschheitsverbesserung gilt und die gesellschaftlich so sehr als moralische Instanz genutzt wird, dass man ihre Kunst fast davor in Schutz nehmen muss. Die eine Kunst formuliert hat, die mit fürsorglicher, mütterlicher Strenge und Mitleid, immer nur das Beste will, aber von den Kindern nicht bekommt, um einen Sponti-Spruch auf die Eltern zu zitieren: „Wir wollen doch nur Dein Bestes. Das kriegt Ihr aber nicht.“

Die Jury, aus den Akademie-Mitgliedern Lothar Böhme, Wolfgang Petrick und Werner Stötzer hat es sich wahrscheinlich gar nicht so leicht gemacht, diesen Preisträger auszuwählen. Vielleicht hat ein grotesker, aber nicht minder treffender Vorschlag sie auf die richtige Spur gesetzt, ganz unakademisch mit diesem Preis umzugehen. Ein anderes Mitglied nämlich, dass sich der Verpflichtung der Jury-Arbeit von Vornherein entzogen hatte, gab den Kollegen mit auf den Weg, doch zu überlegen, Helmut Kohl mit diesem Preis auszuzeichnen. Ob seiner nicht rückgängig zu machenden Verdienste um Käthe Kollwitz, also die Vergrößerung ihrer Pietà für die nationale Gedenkstätte in der neuen Wache. Ein Preisvorschlag, von dem ich mir sehr gut vorstellen kann, dass er auch Martin Kippenberger gefallen hätte. Vielleicht hätte er heute den Preis ja auch gleich weitergereicht.

Wahrscheinlich dies doch eher nicht. Denn augenscheinlich hat er diese erste Auszeichnung, die er je für seine künstlerische Arbeit erhielt, sehr ernst genommen. Er hat die Ausstellung, die oben zu sehen ist, mit neuen Arbeiten von 1996 selbst zusammengestellt. Die Bilder und Lithografien sind im Einzelnen ohne Titel, stehen aber unter der zusammenfassenden Überschrift Das Floß der Medusa. Ich war ganz überrascht, als ich sie mir vor wenigen Tagen anschaute. Da ist nichts mehr von Provokation, Bürgerschreckattitüde oder Anti-Malerei. Eine ganz klassische Ausstellung. Und trotz lauter Farbigkeit kommt sie ganz still einher. Ich weiß nicht: Ist es die Überwölbung durch den Tod oder sind diese Bilder nicht doch selbst ganz und gar in sich gekehrt, nach innen horchend? Und dann dieses Historienthema im doppelten Sinne: Denn als aktuelles Geschichtsbild hatte Géricault das Floß der Medusa gemalt und zugleich als Sinnbild für das vom Untergang bedrohte Staatsschiff. Aber natürlich auch als Sinnbild für die an die Grenze getriebene Existenz des Einzelnen. Hat Martin Kippenberger in diesem Thema, das er so ganz und gar individualisiert und ausschließlich auf sich bezog – denn die Menschendarstellungen sind allesamt Selbstporträts –, hat er in diesen Gemälden und Lithografien dramatisch inszenierte Selbstreflexion betrieben? So mitzuziehen versucht seines Lebens anhand eines inszenierten Bildes, in dem jede Figur eine Rolle übernommen hat und doch zugleich die drohende Vernichtung kein Rollenspiel mehr gestattet? Und hat er gerade diesen Zyklus für diese Ausstellung auch gewählt, um neben allen anderen möglichen Bedeutungsebenen der Akademie einen Spiegel vorzuhalten, gar der Abteilung Bildende Kunst? Diese sei ein Floß der Medusa? Genug.

Jetzt, meine Damen und Herren, würde das Ritual eine Schweigeminute erfordern. Auch dies wäre zum Amüsement von Martin Kippenberger. Nicht, dass ich Sie ihm nicht gönnte. Aber ich ziehe es als Minute des Gedenkens vor, ihn mit einem kurzen Text von 1994 selbst zu Wort kommen zu lassen:
„Bei mir würden Rollenspiele nicht funktionieren, weil ich keinen Stil habe. Is nich. Beweise dafür finden sich schon in der Kindheit. Mein Vater hat immer gesagt, ich müsste einen Stil haben. Und ich hatte wahnsinnige Angst, dass ich keinen Chagall oder keinen Dubuffet würde machen können, also das, was bei uns zu Hause hing. Bis ich dann darauf gekommen bin, dass mein Stil da ist, wo die Person ist. Und die vermittelt wird durch Aktionen, einzelne Sachen und Taten, Entscheidungen und sich daraus eine Geschichte entwickelt. Kunst wird ja sowieso im Nachhinein betrachtet, von außen aus, viel weniger in dem Moment, wo sie entsteht. Ich würde sagen, 20 Jahre ist der Zeitraum. Danach stellt man dann fest, wie das Werk der Künstler eigentlich gewirkt hat. Was dann die Leute noch erzählen werden über mich, entscheidet. Ob ich gute Laune verbreitet habe oder nicht. Und ich arbeite daran, dass die Leute sagen können: Kippenberger war gute Laune. Und dazu noch, dass ich aus mehreren Fachbereichen einige Kleinigkeiten rausgesucht und bearbeitet habe. Es ist gar nicht so einfach so zu operieren. Man kann nicht einfach provokant sein, aber auch nicht einfach lieblich werden. Meine eigenen Regeln, dieses Ziel zu erreichen, sind: Es sollte nichts für Zahnärzte sein. Und es sollte mir nicht passieren, dass man mich für einen nehmen kann, dessen Bilder man übers Wohnzimmersofa hängt. Ich gebe allerdings zu, ich mache auch kleine Bilder, damit ich meine Küche bezahlen kann, die einfach richtig scheißgut sind und scheißgut nach übers Wohnzimmersofa hängen aussehen. Die aber sollten Ausnahmen sein. Zwei Prozent meiner Produktion ist so, das erlaube ich mir einfach, das ist mein Luxus. Was hoffentlich darauf hinausläuft, dass auch einmal wieder mehr eigene Bilder richtig missverstanden werden dürfen in der Öffentlichkeit. Ich muss immer für den Moment arbeiten, wegen dieses kurzen Zeitraums, den man als einzelner hat. Ich benutze alle Möglichkeiten, etwas aufzubauen, was sich selbst hält, für sich spricht. Und bevor ich die anderen Anerkennungen bekomme, wie im Museum hängen, sehe ich eher die Museumsdirektoren hängen. Und das wird nicht geschehen.“