12.5.2017, 18 Uhr

Ljudmila Ulitzkaja: „Immer treffe ich auf ‚planetare‘ Menschen“

Am 5. Mai 2017 sprach die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja bei der 49. Mitgliederversammlung der Akademie der Künste über aktuelle Perspektiven auf das Verhältnis zwischen Russland und Europa. Hier können Sie ihre Rede nachlesen.


49. Mitgliederversammlung der Akademie der Künste
Plenartagung am 5. Mai 2017

Deutsche Übersetzung des Vortrags von Ljudmila Ulitzkaja

„Ich bin der Akademie der Künste dankbar für diese Einladung. Sie ist für mich ein willkommener Anlass, wieder einmal grundsätzlicher über die Situation in der Welt nachzudenken. Insbesondere über die Perspektiven des Verhältnisses zwischen Russland und Europa. Auch wenn sie nur ein kleiner, eher unbedeutender Teil der neuen Gegebenheiten sind.

In den letzten Jahrzehnten wird für mich immer deutlicher, dass die Menschheit eine Krise planetaren Charakters durchmacht. Auch das Verhältnis zwischen Russland und Europa ist nur ein Teil dieser allgemeinen Zivilisationskrise. Und ich beobachte ein neues, wie mir scheint, Phänomen: die Entstehung einer ‚planetaren Menschheit‘. Alle wichtigen Bereiche menschlicher Tätigkeit, ob Wissenschaft, Medizin und Pharmakologie, Kunst, Computertechnik oder das Bankwesen – sie alle werden vor unseren Augen zu planetaren Produkten. Wenn wir zum Beispiel heute in der Apotheke ein Medikament kaufen, wissen wir nicht mehr, woher dieses neue, effektive und mitunter sehr teure Medikament kommt. Entwickelt werden diese Präparate in der Regel in Forschungslabors in Washington, Haifa, Singapur oder wo auch immer, doch die Wissenschaftler, die in diesen Labors arbeiten, stammen aus vielen Ländern der Welt – aus Amerika, China, Russland, Israel ... Und die Medikamente gelangen in kürzester Zeit zu Patienten auf der ganzen Welt.

Es entsteht eine neue Art von fachlichen Beziehungen, die ich als ‚planetar‘ bezeichnen würde. Darin herrscht eine andere Logik, es geht nicht mehr um Vormachtstellung, dieser Kampf ist vorbei. Und diese Logik findet sich in fast allen Bereichen unseres Lebens.

Auf diese Weise treffen zwei Prinzipien aufeinander – die Logik der nationalen Priorität und die Logik der planetaren Welt. Es ist interessant zu beobachten, wie konträr sich diese beiden Prinzipien heute gegenüberstehen.

Ich benutze bewusst den Begriff ‚planetar‘, weil der Begriff ‚Globalisierung‘ heute in gewissem Maße kompromittiert ist, genau wie der Begriff ‚Toleranz‘. Vielleicht wird im Zusammenhang mit der allgemeinen Krise der irdischen Zivilisation zu wenig über die Terminologie-Krise gesprochen. Dabei wäre das äußerst wichtig. Wir streiten viel über verschiedene Dinge und Phänomene, vergessen aber oft, zuvor die ‚Uhren zu vergleichen‘: zu definieren, was genau wir unter diesem oder jenem Begriff verstehen. Denken wir an George Orwell: In seinem großen Roman 1984 beschreibt er einen Extremfall von Bedeutungsentstellung, Begriffe werden in ihr Gegenteil verkehrt – Krieg und Frieden, Liebe und Hass. Ergänzen könnte man noch die Begriffe ‚Rechte‘ und ‚Linke‘. Das raffinierte, aus drei Blöcken bestehende Staatensystem, bei dem ‚Freund‘ und ‚Feind‘ ständig wechseln, ist heute vom geistreichen Geniestreich zur politischen Technologie geworden.

Im Lichte dieser Entwicklung, bei der die inneren Zusammenhänge verloren gegangen sind, ist auch unser heutiges Gespräch über das Verhältnis zwischen Russland und Europa zu sehen. Auf ‚eins, zwei, drei‘ wird der Freund Erdogan zum Feind, wird Deutschland vom europäischen Bündnispartner zum gefährlichen Gegner, ganz zu schweigen von den USA – noch vor wenigen Monaten war Amerika kein Feind mehr, dann wurde es im Handumdrehen wieder zum ‚Weltgendarm‘ erklärt. Von der Ukraine bis Syrien, von Montenegro bis Bulgarien – überall kommt es zu unvorhersagbaren Umbewertungen von Bündnispartnern und Gegnern.

Als ich Anfang der 90er Jahre zum ersten Mal in Paris war, stellte mir ein russischer Emigrant und Journalist die Frage: Wer schreibt heute die politischen Szenarien? Das ist ein Vierteljahrhundert her, und ich kann meine damalige Antwort wiederholen: In Russland werden die politischen Szenarien post factum geschrieben. Erst geschieht etwas Unvorhersagbares, dann erzählt man uns (oder erzählt uns nicht), wie das Szenario aussah. Dabei gab es überhaupt keins.

Die meisten politischen Ereignisse laufen bei uns nach dem Modell der Revolution von 1917 ab: Als Lenin in einem verplombten Waggon aus Deutschland nach Russland kam, hätte er sich nie träumen lassen, dass er ein halbes Jahr später im Ergebnis eines Aufstands Oberhaupt eines neuen Staates sein würde. Alle großen Machtwechsel – von Lenin zu Stalin, von Stalin zu Chruschtschow, von Chruschtschow zu Breschnew und so weiter geschahen nicht nach einem durchdachten Szenario, sondern im Ergebnis verdeckter Machtkämpfe hinter den Kulissen. Es sei denn, man betrachtet Intrigen, Verschwörungen oder Zufälle wie Napoleons Schnupfen am Tag der Niederlage bei Waterloo als politisches Szenario.

Ich vermute, es gibt in unserem Land heute weder eine einheitliche Ideologie noch moralische Prinzipien, sondern nur ein Spiel verschiedener Kräfte – der Kremlgruppe, diverser militärischer Strukturen von der Geheimpolizei bis zur Armee, der Oligarchen und des sehr schwachen, faktisch zerschlagenen demokratischen Flügels der Gesellschaft. In einer solchen Situation wird jede Prognose unmöglich, da das Land nicht nach einer einheitlichen Logik regiert wird. Hauptziel der jetzigen Regierung ist die Erhaltung der Macht, die heutigen Machthaber sind bestrebt, sie für immer zu behalten, möglichst auf Lebenszeit.

Unter diesen Umständen gibt es für die Mächtigen im Land zwangsläufig weder Bündnispartner noch Gegner, es existiert nur ein großes Spielfeld, auf dem die gegenwärtige Politik gemacht wird. Darin eine tiefere Logik zu suchen scheint mir unmöglich. In den letzten Jahren haben wir, wie gesagt, schon mehrfach erlebt, wie Freunde zu Feinden und Feinde zu Freunden erklärt wurden, und jedes Mal hatte dieser Orientierungswechsel mit einer augenblicklichen, oft künstlich geschaffenen politischen Situa-tion zu tun. Ich bin keine Politik-Expertin, Politik hat mich nie interessiert, sie hat mich eher von meinem eigenen Leben abgelenkt und in diverse Protestbewegungen hineingezogen.

Im Prinzip bin ich eine Anhängerin eines vereinigten Europa. Doch ich sehe natürlich, wie schlecht dieses Projekt umgesetzt wird. Mir missfällt die neue europäische Bürokratie, mir missfällt, wie ein großer Teil der so wunderbar gedachten europäischen Strukturen arbeitet. Mir missfällt die Angst, die Europa angesichts von Millionen Flüchtlingen aus dem Nahen Osten erfasst hat, mir missfällt die kleinmütige europäische Zaghaftigkeit gegenüber jenen Barbaren, die der europäischen Kultur und den europäischen Werten mit Hass und Abscheu begegnen. Und das ist eine weitere Seite der Krise – die Krise der Zivilisation. In Russland entstand vor einigen Jahren ein hübsches Bonmot: ‚Im Kampf zwischen Gut und Böse siegen die Kröten.‘

Von dieser Materie, also vom Geld, verstehe ich wenig. Wenn Freunde, die sich in Finanzdingen gut auskennen, behaupten, heutzutage werde die Welt von der Ökonomie beherrscht, dann wage ich nicht zu widersprechen. Aber ich wünschte, es würde eine simple Moral herrschen, die so alt ist wie die Menschheit selbst: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Die erste Regel der Ethik. Keine zehn Gebote, nein, nur ein einziges. Wenn Eigennutz und die damit verbundene Korruption wichtigste Triebkraft der Politik ist, dann löst sich jedes Gespräch über gutnachbarliche Beziehungen in Rauch auf.

Ich wurde gebeten, darüber zu sprechen, wie ich die Perspektiven der Beziehungen zwischen Russland und Europa sehe. Diese Frage ist nur kurzfristig gesehen von Belang. Ich lebe heute in einem Land voller Unvorhersagbarem und Absurdität.

Noch vor einem Monat habe ich gesagt, es sei eine Zeit gekommen, da es für uns, die sogenannte Intelligenzia, nur zwei mögliche Betätigungsfelder gebe: Bildung und Engagement in Wohltätigkeit und Ehrenämtern. Mehr nicht! Die Zeit, da man auf die Straße gehen und seine Unzufriedenheit mit der Regierung artikulieren konnte, sei, so mein Eindruck damals, vorbei – zu groß war der Preis eines solchen Spaziergangs zu einer Kundgebung: Man konnte von der Polizei festgenommen, vor Gericht gestellt werden … Aber ich habe mich geirrt. Völlig überraschend für uns alle kam es zu den Ereignissen im März, als Tausende Menschen in vielen Städten im ganzen Land erneut auf die Straße gingen, mit einem einzigen Ziel: Sich bei der Regierung Gehör zu verschaffen.

Von großer Bedeutung für diese neu erwachte Aktivität war zweifellos Alexej Nawalnys Anti-Korruptionsprogramm. Und das Erstaunlichste: auf die Straße gegangen sind vor allem junge Leute. Das war wirklich erstaunlich! Während wir Älteren, die unter der Sowjetmacht aufgewachsen sind und von Jugend an ein klares Verhältnis zu ihr hatten, während wir Älteren über das Schicksal unseres unglücklichen Landes nachdachten, sind unsere Enkel herangewachsen, nicht unsere Kinder, sondern die Enkel, geboren nach dem Fall der Sowjetmacht und weder von sowjetischer noch von postsowjetischer Propaganda beeinflusst, eine Generation, die nicht mehr fernsieht, sondern sich im Internet bewegt und sich anschaut, was sie will – Rap, Pornos oder was auch immer –, Neues und Interessantes, zu dem wir keinen Zugang haben. Diese Jugend lebt im weltweiten Informationsstrom, den wir Ältere nur mit Mühe aufnehmen. Ein Teil dieser Kinder schaut sich Bildungsprogramme an, ein anderer russischen Rap – auch ein Phänomen, das die ältere Generation kaum wahrgenommen hat.

Ich war Genetikerin, vor fünfzig Jahren habe ich mich mit Populationsgenetik beschäftigt. Das Leben ist seinem Wesen nach ein sich entwickelndes System. Die hochinteressante, aber jeder praktischen Bedeutung entbehrende Frage, wer diesen Mechanismus in Gang gesetzt hat, ein Schöpfer, eine Höhere Vernunft oder ein Zufall, lasse ich einmal beiseite – jedenfalls entwickelt sich die Menschheit ständig weiter, und heute, im einundzwanzigsten Jahrhundert, ist den Wissenschaftlern bewusst, dass die Evolution ein neues Niveau erreicht hat: Sie kann nun von Menschen gemacht und gesteuert werden, die Konturen und Perspektiven der menschlichen Population haben sich verändert. Und diese Perspektiven sind ebenso schön wie furchterregend.

Zweifelsfrei ist für mich jedoch eines. Ich reise viel durch die Welt. Die Erde ist klein geworden, und auf ihr leben heute sehr viele Menschen. Aber wo ich auch bin, immer treffe ich auf die neue Art von Menschen – die ich ‚planetare‘ Menschen nenne. Rasse, Nationalität, Alter und Geschlecht spielen für sie keine Rolle, es sind hochqualifizierte Fachleute, die in dem Land leben, das die jeweils besten Voraussetzungen für die Realisierung ihrer Ideen und letztlich für die Produktion eines planetaren Produkts bietet, das in jedem Land der Welt gebraucht wird – in Uganda, in Japan, in Estland und in Chile.

Und schließlich das Letzte, was ich sagen möchte: Unter den diversen von Futurologen erstellten Prognosen gibt es mehrere Endzeitszenarien – die Menschheit als Art könne zum Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts aufhören zu existieren. Womöglich bleibt uns nicht mehr sehr viel Zeit, um unsere gemeinsamen Perspektiven zu erörtern. Entweder, unsere Art Homo sapiens verändert im Verlauf der neuen, umfassenden Krise ihr Bewusstsein, verzichtet auf den unserer Art eigenen Nationalismus, die höchste Form des Egoismus, oder sie wird aufhören zu existieren. Und dann wird niemand mehr da sein, der sich Gedanken macht über die Perspektiven des Verhältnisses zwischen Russland und Europa.“

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt